BG Kritik: „Gattaca“ (Treasure Monday)
Meisterhafte Sci-Fi aus den 90ern: In der Zukunft leben genetisch perfektionierte Menschen die Vorzüge der modernen Gesellschaft aus. Vincent (Ethan Hawke) ist ein so genanntes „Gotteskind“, ein „Invalid“, der auf normalem Wege gezeugt und geboren wurde und dadurch ein unterklassiger, schwächerer Mensch ist. Vincent träumt davon, eine Weltraummission zum Saturnmond Titan zu unternehmen. Ihm bietet sich diese Möglichkeit, als er die Rolle des eigentlich perfekten Jerome (Jude Law) einnimmt, der nach einem Unfall querschnittsgelähmt ist.
Gattaca
(USA 1997)
Regie: Andrew Niccol
Darsteller: Ethan Hawke, Jude Law, Uma Thurman
Kinostart Deutschland: 09. Juli 1998
(Diese Kritik erschien ursprünglich im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, veröffentlicht November 2014.)
Das Regiedebüt des späteren „Truman Show“ Autors Andrew Niccol entwirft eine erschreckend wahrscheinliche Welt von der Zukunft, in der die Klassentheorie der Menschheit auch genetischer Fakt wird. So wird aus „Gattaca“ einer der besten Science-Fiction Filme überhaupt, der aber seinerzeit grandios an den Kinokassen floppte.
Schon heute und nicht erst seit gestern sind Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik in der Fortpflanzungsbiologie gebräuchlich, ja sogar Standard. Wie jede gute Idee birgt auch dieses „Spicken auf Gottes Bauplan“ Probleme. Genau bei solchen Gedanken setzt gute Science-Fiction an. Kluge Science-Fiction muss nicht immer gleich den Teufel an die Wand malen, wie tief das selbstgeschaufelte Grab der Menschheit schon ist. Zu jedem „Soylent Green“ gehört auch ein „Gattaca“, der Warnung statt Mahnung ist, die Geschwindigkeit und Handlungsdimensionen des technologischen Fortschritts zu bedenken. Wer ein Kind erwartet, erhofft sich natürlich ein Kind in bester Gesundheit. Der Sprung zu einem verbesserten Nachwuchs, der genetisch vorgefertigt ist, gesund, klug und stark zu sein, ist kein besonders weiter Sprung. Wer möchte nicht das Beste für seinen Nachwuchs? So öffnen in „Gattaca“ natürliche und nachvollziehbare Wünsche einer neuen genetischen Über-Generation (oder gar „Herrenrasse“?) aus dem Reagenzglas Tür und Tor.
Schon immer haben Menschen Mittel und Wege gefunden, einander abzustufen, in Klassen zu unterteilen. Wer an der Spitze saß, wer die Macht hatte, wollte diesen Status Quo beibehalten. Wir folgen natürlich einem Protagonisten, der nicht zur höchsten Gruppe gehört, der kein Interesse daran hat, den Status Quo zu wahren. Doch Vincent (Ethan Hawke), der ohne genetischen Einfluss mit diversen „von Gott gegebenen“ Schwächen und Krankheiten geboren ist, hat kein Interesse an einer Revolution. Vincent hat einen ganz persönlichen, ganz individuellen Traum. Als Invalider hat er in der Gesellschaft der Zukunft keine Aussicht auf eine höhere Einstellung, oder auf einen akademischen Bildungsweg. Vincents Traum von der Raumfahrt ist ihm genetisch verwehrt. Die Möglichkeiten, diese Sci-Fi Klassenunterschiede auf unsere gegenwärtige Realität zu beziehen, sind mannigfaltig.
Der faszinierende Kniff von Andrew Niccols Film ist es, eine große Idee glaubwürdig auf ein individuelles Drama anzupassen. Die Gesellschaft der Zukunft wird durch Vincent nicht in ihren Grundfesten erschüttert, aber wir, als Zuschauer, erkennen die Vision des angeblich perfekten Menschen als unvollständig beschönigte Vision. Vincent wurde vor seiner Geburt eine Herzschwäche diagnostiziert, die sich dann auch einstellt. Doch gleichzeitig hat Vincent ein mentales Kämpferherz, einen inneren Antrieb, der Potential hat stärker zu sein als Genetik. Genetik macht den Menschen auch noch nicht zum Herrn über das Schicksal. Das muss Jerome (Jude Law) am eigenen Leib erfahren. Genetisch perfekt und zu einer großen Sportkarriere auserkoren, ist er nach einem Unfall an den Rollstuhl gefesselt. Er ist unfähig, seiner genetischen Prädestination zu folgen. So entwickeln Vincent und Jerome eine ungewöhnliche Art der Symbiose. Vincent erhält regelmäßig Proben Jeromes Haut, Haar, Blut und Urin, um in der streng kontrollierten Gesellschaft dessen Rolle ein- und am Raumfahrttraining teilzunehmen. Als Gegenleistung garantiert Vincent Jerome den Verbleib in der höheren, besseren und saubereren Welt, an die er sich gewöhnt hat.
Hawke und Law sind ein faszinierendes Duo. Zugleich Brüder, Freunde, Feinde und dieselbe Person entwickelt sich zwischen ihnen ein faszinierendes Zerrspiel aus symbiotischem Bündnis und Identitätsmaskerade. Die streng kontrollierte Gattaca Gesellschaft macht Vincents Charade zu einem spannenden Versteckspiel, denn immer und überall werden Hautschuppen, Wimpern und sonstige DNA Proben aufgesammelt, um mögliche Invalids, die sich unter die herrschende „Rasse“ gemischt haben könnten, aufzuspüren. So muss Vincent sich Tag für Tag schrubben, reinigen, von Kopf bis Fuß umkrempeln, um seine invalide Natur abzustreifen und nicht Gefahr zu laufen entdeckt zu werden. Eine mögliche Beziehung mit der Gattaca Kollegin Irene (Uma Thurman) und ein ungewöhnlicher Mordfall sind weitere Handlungselemente, die Vincents Reise beeinflussen, doch es ist in erster Linie sein Kampf gegen das genetische Schicksal, gegen die biologische Vorverurteilung, die „Gattaca“ so reizvoll macht. Der wunderbar ruhig und elegant erzählte Film lebt dabei von zwei großartigen Hauptdarstellern, aber auch von seiner wunderbaren Optik. Die kristallklar elegante, zugeknöpfte und vermeintlich porentief reine Welt von Kostümen und Ausstattung verleiht Niccols Zukunftsvision einen wirkungsvollen Hintergrund, den Michael Nymans wundervolle Musik noch erweitert. „Gattaca“ ist ruhiges Kino der Ideen und Emotionen, doch darin so klar und effektiv, dass der Film nicht länger verdient, ein Schattendasein zu führen.
Fazit:
Klug und effektiv erzählt, stark gespielt. Andrew Niccols Zukunftsvision gibt viel zu denken auf und ist gleichzeitig eine faszinierend vielschichtige Geschichte.
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