BG Kritik: „I’m thinking of ending things“

5. September 2020, Christian Westhus

Der Autor von „Being John Malkovich“ und „Vergiss mein nicht“, Regisseur von „Anomalisa“, kommt mit einem Genregrenzen sprengenden Film zu Netflix. Eine junge Frau begleitet ihren Freund erstmalig zu dessen Eltern, obwohl sie eigentlich keinen Glauben mehr an die Beziehung hat. Und aus dem Familientreffen wird bald ein schwer zu fassender Psycho-Trip. „I’m thinking of ending things“

I’m thinking of ending things
(USA 2020)
Regie: Charlie Kaufman
Darsteller: Jessie Buckley, Jesse Plemons, Toni Collette, David Thewlis
Veröffentlichung: 04. September 2020 (Netflix)

Charlie Kaufman ist auf dem besten Weg, zu seinem eigenen Genre, zu einem filmkulturellen Verb zu werden. Kaufman, der als Drehbuchautor in „Being John Malkovich“, „Adaptation“ und „Vergiss mein nicht“ die Grenzen des Irrealen ausgetestet und in seinem Regiedebüt „Synecdoche New York“ so sehr auf die Spitze getrieben hat, dass er in seinem nächsten Film, „Anomalisa“, nur zur Animation übergehen konnte. Der Autor und Regisseur erforscht nicht einfach nur menschliches Innenleben, sondern taucht tief – und abstrakt – in die Mechanik des Denkens ab, des Unterbewusstseins, in die Diskrepanz zwischen dem Mentalen und dem Körperlichen. Kurzum: Charlie Kaufman ist einer der eigentümlichsten und spannendsten Film-Erzähler unserer Zeit. Es schadet nicht dies zu wissen, wenn man sich in „I’m thinking of ending things“ begibt, denn auch wenn die dreifach verschwurbelten Meta-Ansätze von „Synecdoche New York“ in ihrer Entrücktheit vermutlich unerreicht bleiben, ist dieser Film eine ganz besondere Angelegenheit.

Eine besondere Angelegenheit wird auch gerne mal zu einer schwierigen Angelegenheit für nicht wenige Zuschauer. Insbesondere dann, wenn mal wieder mit Genrebegriffen gespielt wird. Und ja, so völlig falsch ist es nicht, „I’m thinking of ending things“ ein paar Berührungspunkte mit Horror anzudichten. Wie so oft ist Horror als Begriff und Genregrenze unmöglich klar zu fassen. Wo fängt es an? Wo hört es auf? Doch Charlie Kaufman ist – zur Überraschung von niemandem – kein Filmemacher, der sich von Genrekonventionen oder -erwartungen irgendwie beeinflussen oder gar eingrenzen ließe. Wenn überhaupt, ist „I’m thinking of ending things“ Horror auf dem Level der Bergman-Klassiker „Persona“ und „Die Stunde des Wolfs“. Wirklich weit kommt man mit diesem Vergleich allerdings nicht.

© Netflix

Im Film folgen wir Lucy – oder heißt sie Louise? Jedenfalls die von Jessie Buckley (absolut großartig) gespielte Hauptfigur; sie begleitet ihren Freund Jake (Jesse Plemons), um erstmalig dessen Eltern kennen zu lernen. Jake bereitet seine Freundin auf ein paar Eigenheiten seiner Erzeuger vor, während Lucy überlegt, die Sache zu beenden. Die Beziehung, versteht sich – aber meint das der Filmtitel auch? Die Fahrt zur entlegenen Farm der Eltern, während sich ein größerer Schneesturm anbahnt, ist durchzogen von unmissverständlichen Hinweisen und Anregung, sei es Lucys gewaltiges Gedicht, sei es Jake, der Lucys Gedanken zu „spüren“ scheint, oder die Beobachtung einer Schaukel am Wegesrand, die dort einfach nicht hinzugehört. Und warum sehen wir immer mal wieder Szenen eines High School Hausmeisters, der nicht in diese Geschichte zu gehören scheint? Wohin diese Impressionen führen, wird sich noch zeigen – vermutlich. Schon dieser auffällig lange Trip durch Schneegestöber mutet seltsam und irgendwie „befremdlich“ an. Aber es ist eben Charlie Kaufman, da laufen die Dinge praktisch nie so ab, wie man es vermutet.

Die Eltern sind dann fast erwartungsgemäß höchst irritierende Sonderlinge in Gestalt von Toni Collette (die vermutlich nicht nur zufällig Erinnerungen an „Hereditary“ in diesen Film überträgt) und David Thewlis (bei dem Erinnerungen an seine Rolle in „Fargo Staffel 3“ die Wirkung seiner Figur hier nur noch intensiviert). Ein erster Rundgang zeigt uns verendete Farmtiere, einen eigenartig-irreal wirkenden Hund, ungewöhnliche Telefonanrufe und eine verschlossene Kellertür mit Kratzspuren. Kaufman mag sich von Genrekonventionen und -tropen nicht beeinflussen lassen, aber er weiß sie einzusetzen. Die ersten Begegnungen mit der Familie sind unbeholfen, seltsam, auch weil Jake selbst einen unausgesprochenen Sattelschlepper mit elterlichen „Komplexen“ mitbringt. Beim gemeinsamen Abendessen, wenn über Louises Job, künstlerische Ambitionen und das Kennenlernen des jungen Paares gesprochen wird, geht es dann rund. Wenn man das so nennen kann. Aus ‚seltsam‘ wird bald schon ‚hochgradig unangenehm‘, ohne dass die Stimmung großartig kippt oder eskaliert. Es ist das, was man neudeutsch „cringe“ nennt. Und es ist (vermutlich/hoffentlich) „the most cringe“ des Filmjahres. Ein Kuchen wird irgendwann noch verteilt, Fotos betrachtet, Kindheitserinnerungen ausgetauscht und nach einem wunderbaren Schnitt steht die Welt dieses Films Kopf. Jeder Versuch, die verbliebenen rund 75 Minuten des Films zu beschreiben, würde nicht nur den Sehgenuss für Uneingeweihte ruinieren, es wäre schlicht und ergreifend nicht glaubwürdig möglich.

© Netflix

Alles über diesen Punkt hinaus bringt eine Kritik in den Bereich einer Analyse. Es ist das, was jeder Zuschauer individuell leisten kann und sollte. „I’m thinking of ending things“ ist ein ganz sonderbarer Fall von „Was will uns der Autor damit sagen“; verkünstelt und enigmatisch konzipiert, kompromisslos dargestellt, aber auch ganz sicher nicht beliebig oder „frei“ interpretierbar. Obwohl dieser Film auf Iain Reids gleichnamigen Roman basiert, ist er durch und durch geprägt von einem Kaufman’schen Gefühl. Es ist diskutabel, ob bzw. wie sehr der Filmemacher hier überhaupt echte und ausformulierte Charaktere kreieren wollte, wenn sich Figuren, Handlung und Gestaltung doch immer weiter in Abstraktion und Theorie verlieren. Wenn wir einen kurzen Blick auf ein Regal erhaschen können, darin einige gut lesbare VHS-Filmtitel und einen Sammelband von Filmkritik-Ikone Pauline Kael erkennen, und wenn im späteren Verlauf über Filme gesprochen und diskutiert wird, sollten die Ohren gespitzt und das Hirn aufgeladen sein. Gleiches gilt für einen Gedichtband und für authentische Gemälde eines bekannten Künstlers, gilt für weitere Gespräche über Kultur, über Kindheit, Schönheit, Zeit und Alter. Und ganz zentral: das Rodgers & Hammerstein Musical „Oklahoma“. So ist „I’m thinking of ending things“ nicht zuletzt auch ein Film über Filme, übers Filmemacher und über Filmkonventionen und Archetypen, die Kaufman in ähnlicher Form schon seit jeher in seinen Geschichten zu ergründen versuchte.

Zu sagen, „I’m thinking of ending things“ sei ein Mix aus „Hereditary“, „Mulholland Drive“ und „Letztes Jahr in Marienbad“, könnte eine einigermaßen hilfreiche Annäherung sein, aber viel mehr auch nicht. Es ist ein Film, den man unbedingt ein zweites Mal sehen sollte und vielleicht auch möchte, ganz egal wie sehr das Irritierende und das Unangenehme des Films in den ersten Momenten danach überwiegt. Ein Kunstwerk, wie es im heutigen Filmgeschäft eigentlich nicht mehr gedreht wird und auch in der Vergangenheit nur selten versucht wurde. Bei aller Kritik an Netflix‘ zaghafter Beziehung zum Kino als Vorführungsort (die aktuellen Umstände mal außen vor gelassen), wäre „I’m thinking of ending things“ in dieser Form nur unter den allergünstigsten Bedingungen für eine Kinoauswertung entstanden. Dass durch Netflix‘ „Alles drauf auf den Haufen“ Einstellung so manch Uneingeweihter nichtsahnend in diesen Film stolpern wird, macht die Sache nur noch spannender, auch wenn es nicht selten in kompletter Ablehnung enden mag. Es ist ein Wagnis bzw. ein Selbstverständnis, zu dem Kaufman und offenbar auch Netflix nur zu gerne bereit sind.

Fazit:
Schwer zu kategorisieren und schwer zu begreifen. Ein ungewöhnliches, einzigartiges, oft seltsames und auch unangenehmes Stück Film. Facettenreich, komplex und trotz aller Theorie erstaunlich menschlich – wenn man sich auf Charlie Kaufmans eigentümliche Psycho-Spielchen einlassen kann. #TheMostCringe

8/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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