BG Kritik: „Pulp Fiction“ („Classics“ Kritik)

2. Oktober 2020, Christian Westhus

Ein Kultfilm, einer der einflussreichsten Filme der letzten 30 Jahre und der endgültige Durchbruch für eine schillernde Regiekarriere. Wir zeigen Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ am Sonntag (04. Oktober 2020) in unserem Kultkino in Lippstadt und schauen in dieser Klassiker-Kritik noch einmal genauer hin.

© Miramax/Buena Vista

Pulp Fiction
(USA 1994)
Regie: Quentin Tarantino
Darsteller: John Travolta, Samuel L. Jackson, Uma Thurman, Bruce Willis, Harvey Keitel, u.a.
Kinostart Deutschland: 03. November 1994

Im Prinzip ist in den letzten 25+ Jahren schon so ziemlich alles über „Pulp Fiction“ gesagt und geschrieben worden. Doch es ist immer hilfreich, sich noch einmal ins Bewusstsein zu rufen, welchen Stellenwert dieser eigentlich recht klein und günstig produzierte Film hat und warum. Heute über den Einfluss des Films auf die Kinogeschichte, auf Erzähl- und Stiltrends des Mediums zu sprechen, ist, als würde man Anno 1994 über Jean-Luc Godards Werke, über „Außer Atem“ (1960) und „Die Außenseiterbande“ (1964) diskutieren. Die Verbindung von Godard zu Tarantino ist nicht nur naheliegend, sondern unumgänglich. Von der späteren Politisierung des legendären Franzosen abgesehen, griff Tarantino Motive, Äußerlichkeiten und Erzählformen auf, um sie neu zusammengesetzt in einen amerikanischen Gangsterfilm zu transportieren. Nicht ohne Grund benannte der Regisseur seine Produktionsfirma „A Band Apart“ nach eben „Die Außenseiterbande“, transformierte die berühmte Tanzszene jenes Films in die gleichermaßen kultig-legendäre Tanzszene zwischen John Travolta und Uma Thurman. Arthur Penn dachte die Ideen der französischen Neuen Welle für „Bonnie und Clyde“ (1967) weiter, um die eigene Revolution des amerikanischen Genrekinos anzutreiben. Ein echter Erneuerer war Quentin Tarantino hingegen nie. Seine Stärken liegen in der Umfunktionierung und Rekontextualisierung bestehender Konventionen und Motive, in der ungehemmten und furchtlosen Kombination vermeintlich widersprüchlicher Elemente, sei es Godards struktureller Experimentalstil, amerikanische Gangster- und Pulp-Traditionen oder eben dieses außerordentliche musikalische Gespür.

Es ist hilfreich, sich daran zu erinnern, dass der Gewinn der Goldenen Palme in Cannes 1994 nicht nur große Wellen schlug, sondern auch für lautstarke Proteste unter Kritikern, Presse und Zuschauern sorgte, eine Zeit lang als mittelgroßer Skandal galt. Es schien für einige wenige Leute unvorstellbar, den höchsten Preis des elitärsten, am höchsten angesehenen und wichtigsten (europäischen) Filmpreises an einen amerikanischen Gangsterfilm zu vergeben. Godard (und seine Nouvelle Vague Kollegen) hatten immerhin das französische Nachkriegskino komplett revolutioniert und umgekrempelt. Tarantino, so die paraphrasierte Einschätzung, die sich teilweise bis heute gehalten hat, gab nur alten Kamellen der Schundliteratur einen post-modernen Retro-Anstrich. Auf der anderen Seite sahen nicht wenige – insbesondere amerikanische – Filmjournalisten in Quentin Tarantino den Beginn einer neuen Generation des New Hollywoods. Gemeinsam mit beispielsweise Steven Soderbergh, der 1989 mit der Goldenen Palme für „Sex, Lügen & Video“ als blutjunger Filmemacher ähnlichen Aufruhr beim Festival auslöste, sollte Tarantino Coppola, Scorsese, Spielberg und Co. beerben.

Tarantino und sein Ko-Autor Roger Avary entnahmen Archetypen aus der amerikanischen Schund- und Trivialliteratur – daher der Filmtitel –, schufen mit viel Wortwitz und bösem Humor neue Szenarios und würfelten die Chronologie der Episoden und Fragmente wild durcheinander. Das alles ist, wie erwähnt, keineswegs Neuland und doch wirkte diese Fusion vor gut 25 Jahren absolut neuartig und vermag das auch heute noch. Die Erzählungen innerhalb von „Pulp Fiction“ sind durchzogen von finsteren Machenschaften, brutaler Gewalt, aber auch von dummen Zufällen und schwarzem Humor. Aus der richtigen Perspektive ist „Pulp Fiction“ mal Hommage, mal Renaissance und mal Persiflage des Gangsterkinos, vermag diese drei vermeintlich widersprüchlichen Elemente aber immerzu gleichwertig jonglieren. Die gesprengte Chronologie führt den Satiregehalt der besagten dummen Zufälle ad absurdum, unterlegt selbst die unerträglichsten Schicksale mit einer bissigen Ironie. Dies ist eine abgefuckte Welt voller abgefuckter Möchtegern-Krimineller, gibt der Film immer wieder zu verstehen, wie eine exzentrische Übertreibung eines Coen-Brüder Films.

Das Geheimnis tarantinoesker Dialoge, Figurenzeichnungen, Referenzen und insbesondere Handlungskonstruktionen ist offenbar nicht so einfach zu ergründen. Vincent und Jules sprechen über Burger und Fußmassagen, Boxer Butch erhält die Uhr seines toten Vaters zurück, Mia Wallace hat ein Problem mit Kokain und zwei abgewrackte Gangster wollen ein Diner hochnehmen. Das klingt simpel und ist doch ganz und gar nicht simpel konstruiert und ausformuliert, wie nahezu alle „Pulp Fiction“ und Tarantino-Trittbrettfahrer der 90er beweisen, mögen sie „Go“ (1999), „The Way of the Gun“ (2000), „Very bad things“ (1998) oder „Boondock Saints“ (1999) heißen. Es ist ein ähnliches Schicksal, wie es das andere einflussreiche 90er Meisterwerk erfuhr, „The Matrix“ (1999). „Pulp Fiction“ und seine eigenwillige Retro-Pulp Cocktail-Rezeptur sind nicht so einfach wiederholbar. Ohne Roger Avary um seine Anerkennung zu bringen, doch die weitere Karriere Tarantinos bestätigt eher dessen einzigartigen Stil und das unverkennbare Talent, welches diesen Film so besonders werden ließ. Tarantino vermied es, eine simple Kopie bzw. Wiederholung von „Pulp Fiction“ anzugehen. Selbst „Kill Bill“, eine Art „Eastern & Western Fiction“, ist ein verhältnismäßig eigenes Ding und doch durch und durch unkopierbar Tarantino. Die Filme des Regisseurs sind der Blick durch eine einzigartige Linse, durch die die Filmgeschichte in einem ganz eigenen Prisma aufgeht. Es ist das Tarantino-Prisma und „Pulp Fiction“ eines der spannendsten und unterhaltsamsten Beispiele davon. Oder in anderen Worten: nur ein Quentin Tarantino konnte einen „Pulp Fiction“ drehen, doch Quentin Tarantino kann nicht nur „Pulp Fiction“ drehen.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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