BG Kritik: „His House“

4. November 2020, Christian Westhus

Ungewöhnlicher Horror bei Netflix. Afrikanische Flüchtlinge geraten in einer Sozialwohnung in England an eine möglicherweise übernatürlich-geisterhafte Erscheinung. „His House“ ist spannend und metaphorisch, aber auch gut?

His House
(UK 2020)
Regie: Remi Weekes
Darsteller: Sope Dirisu, Wunmi Mosaku, Matt Smith
Veröffentlichung: 30. Oktober 2020 (Netflix)

Die Wandlungsfähigkeit von Horror lässt sich nur zu leicht auch für soziale und politische Angelegenheiten nutzen. So macht es Remi Weekes in seinem Regiedebüt „His House“, wo Flüchtlingstraumata in ein Haunted House Szenario übertragen werden. Doch eigentlich tut man den Film mit dieser Beschreibung Unrecht. Bol (Sope Dirisu) und Rial (Wunmi Mosaku, bekannt aus „Lovecraft Country“) erreichen nach turbulenter und folgenschwerer Flucht aus dem Südsudan, dem jüngsten Staat unseres Planeten, endlich England. Nach einem gefängnisähnlichen Aufenthalt in einer Sammelstation werden beide – nicht nur zu ihrer eigenen Verwunderung – in ein richtiges Haus verlegt. Hier sollen sie die nächste Phase auf ihrer Asylsuche abwarten, bekommen daher eine ganze Reihe von Regeln und Verboten vorgesetzt, denn sie sind bisher nur geduldet, keineswegs eingebürgert. Es ist eine absurde Freiheit, wenn Finanzen, Sozialkontakte und Freizeitbeschäftigungen von außen kontrolliert werden.

Noch dazu ist das Haus eine ramponierte Bruchbude. Es ist ein Haus, klar, doch mit den maroden Wänden, der mangelhaften Elektrizität und den fauligen Rückständen irgendwelcher vorigen Bewohner wirkt es wie der letzte schäbige Rest, den man sonst niemandem zumuten konnte. Die Ansprechpartner von der Einwanderungsbehörde (u.a. Matt Smith), die den Aufenthalt, das Geld und das Haus verwalten, betonen hingegen nur immer wieder, das Haus sei größer als die eigene Bleibe der Angestellten. Und nicht nur das: Bol sieht in vermeintlichen Wachträumen eine Gestalt durch die Zimmer laufen und in den Wänden verschwinden. Eine Gestalt, die Rial bald als „Hexenmeister“ bezeichnet, der sich beiden womöglich schon vor ihrer Ankunft angeheftet hatte.

© Aidan Monaghan / Netflix

Seit „Candyman’s Fluch“ (1992) wurden städtische Verwahrlosung, Armutswohnunterkünfte und sozialer Horror nicht mehr so direkt verknüpft. Und doch ist die Herkunft der Protagonisten von entscheidender Bedeutung. „His House“ ist ein Flüchtlingsdrama in Gestalt eines Horrorfilms und erinnert daher noch eher an Mati Diops „Atlantique“ (2019), der ebenfalls bei Netflix erschien. Die Hintergründe der Flucht seiner Protagonisten lässt Regisseur Weekes in „His House“ zunächst vage und abstrakt; ein LKW, ein Boot, die hohe See. Mehr bekommen wir erst einmal nicht. Die Einwanderungsbehörden, die Kulturschocks und der unterschwellige Rassismus dominieren das erste Drittel des Films. Man dürfte überrascht sein, aus wessen Mund man zuerst einen Spruch wie „Geh zurück nach Afrika“ hört. Doch je konkreter die möglicherweise übernatürliche Präsenz im Haus wird, desto stärker fokussiert sich die Erzählung auf Bol und Rial, auf ihre afrikanische Herkunft und die gewaltigen (und gewalttätigen) Umstände, die sie in dieses Haus brachten. Immerzu stellt sich auch die Frage, wessen Haus dies wirklich ist, wer der implizierte „Er“ des Titels ist.

Mit seinen umherwandernden Schatten, Gestalten im Hintergrund, unerklärbaren Geräuschen und Lichtschalter-Spielchen erfindet Weekes das Rad des Spukhauses nicht neu, weiß es aber überaus geschickt zu nutzen. Noch dazu hat es einen erfrischenden und spannenden Effekt, diese Schatten durch einen maroden Sozialbau geistern oder sie wie afrikanische Hexenmeister aussehen zu lassen. Bol und Rial entwickeln bald jeweils unterschiedliche Sichtweisen auf die ungebetenen Gäste und auf die Umstände ihrer neuen Vielleicht-Heimat. Gespielt mit einer unterschwelligen Intensität und Glaubwürdigkeit, werden die Figuren zum Anker, wenn Regisseur Weekes im weiteren Verlauf die Metaphorik seiner Geschichte hochfährt. „His House“ ist ein überaus ambitioniertes Werk für einen Neuling, eine erfrischend ungeschliffene Angelegenheit, welche die eigene Tragweite womöglich hier und da überschätzt. Das erinnert in seiner kompromisslos-blümeranten Bildsprache an Mike Flanagans „Before I Wake“ oder gar an Darren Aronofskys „mother!“, doch „His House“ bekommt in seiner Zuspitzung, Wendung und Auflösung noch die Kurve, bevor man zu tief im Abstrakten landet.

Fazit:
Nicht perfekt, doch ein gleichermaßen ambitioniertes wie ungewöhnliches Unterfangen. Ein Horrorfilm als Kommentar über Flüchtlingsidentität und verdrängte Schuldprozesse. Reichhaltig in seiner Interpretierbarkeit, doch auch als reiner Genrefilm ein beachtliches Werk.

7/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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