BG Kritik: „Mathilde – Eine große Liebe“

27. Juli 2020, Christian Westhus

Von „Amélie“ Regisseur Jean-Pierre Jeunet: Die junge Mathilde (Audrey Tautou) erfährt, dass ihr Mann Manech (Gaspard Ulliel), ein französischer Soldat im 1. Weltkrieg, verstorben sei. Doch Mathilde hat Zweifel an der Geschichte und forscht – da es keine Beweise für Manechs Tod gibt – nach, was wirklich mit ihrem Geliebten passiert ist. Dabei trifft sie auf Manechs Kameraden, auf windige Offiziere und auf andere Frauen, die nach ihren Männern suchen.

Mathilde – Eine große Liebe
(Originaltitel: Un long dimanche de fiançailles | Frankreich, USA 2004)
Regie: Jean-Pierre Jeunet
Darsteller: Audrey Tautou, Gaspard Ulliel, Dominique Pinon, Marion Cotillard, Jodie Foster, Denis Lavant uvm.
Kinostart Deutschland: 27. Januar 2005

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im Februar 2015.)

Jean-Pierre Jeunet, Regisseur von so liebevoll verrückten Wundertüten wie „Delicatessen“ und „Amélie“, nimmt sich dem 1. Weltkrieg an, was ihn erneut mit seinem „Amélie“ Star Audrey Tautou vereint. Jeunet nimmt sich nicht ganz ungefiltert dem ersten großen interkontinentalen Krieg der Neuzeit an. Basierend auf Sébastien Japrisots Roman, setzt Jeunet den Krieg in und zwischen den Schützengräben auf deutscher und französischer Seite ins Bild, auf seine so einzigartig kreative Weise. Schon das allererste Bild krallt sich direkt und unmittelbar unsere Aufmerksamkeit, wenn sich ein zerbombter Holz-Jesus noch mit einem Arm ans zersplitterte Kreuz hält, das ehemals am Straßenrand, nun mitten auf einem Schlachtfeld steht. Jeunets Bilder, formschön eingefangen und in Bernstein getaucht von Bruno Delbonnel, verbinden den Horror des blutigen und tödlichen Kriegsgefechts mit einer surrealen Romantik. Es ist ein visueller Stil, den kaum jemand so beherrscht wie Jeunet, der ihm selbst auch nicht immer gelingt, der im Idealfall aber verblüffende Reaktionen hervorruft.

Es hilft, dass Jeunet kein Zyniker ist, aber auch kein naiver Optimist. Mathildes Verlobter Manech bringt Jeunets von realistischer Bitterkeit durchzogenen Optimismus in einem bezeichnend surrealen Satz auf den Punkt, wenn er hofft, nach seiner Exekution wieder zu seiner Mathilde zurückkehren zu können. Er meint es nicht metaphorisch, nicht im übertragenen Sinne, sondern so, wie er es gesagt hat. Er ist froh, nach der Exekution wieder zu Mathilde gehen zu können. Das ist die Absurdität und der psychische Horror des Krieges durch Jean-Pierre Jeunets Augen. Romanautor Japrisot scheint die ideale Vorlage geliefert zu haben, denn schon dort wurde der Stützpunkt, auf dem Manech sich zuletzt befand, auf den kuriosen Namen Bingo Crepuscule getauft, über den sich mehr als nur eine Figur im Laufe der Handlung amüsiert bzw. beschwert. Bingo Crepuscule hat gewisse Vorschriften, wie mit Deserteuren umzugehen ist, und hat einen strengen Hauptmann, der diese Vorschriften umsetzen lässt. Manech und eine knappe Handvoll Kollegen werden ins zerbombte Niemandsland zwischen dem deutschen und dem französischen Graben geworfen, weil sie sich vermeintlich absichtlich selbst verstümmelten, um vom Kriegsdienst befreit zu werden. So harren sie in der bizarren Kulisse aus, bis ihnen der Tod ereilt. Ein Chaos, welches sich nur schwer mit Fakten und Wahrheiten vereinbaren lässt.

© Warner Bros

Dieses Chaos des Krieges ist der letzte Strohhalm, das Fünkchen Hoffnung für Mathilde, die nicht glauben will, dass ihr geliebter Manech tot sein soll. Es ist ihr Film, denn den Hauptteil der Handlung verbringen wir mit dieser sturen und zielstrebigen jungen Frau, die wie eine forsche Detektivin den widersprüchlichen Informationen nachgeht und aufspürt, was wirklich in Bingo Crepuscule und mit ihrem Manech passiert ist. In Rückblenden erfahren wir, wie Manech die verwaiste und durch Polio gehbehinderte Mathilde kennen- und irgendwann lieben lernte, ehe er an die „Front“ muss. Und Mathilde, wunderbar dickköpfig und zwischen Hoffen und Bangen verkörpert von Audrey Tautou, will nicht an den Tod ihrer großen Liebe glauben. Sie nimmt die Dinge selbst in die Hand, um dem Chaos namens Krieg Herr(in) zu werden. Auf mal bedrückende, mal kuriose, mal heftige Art und Weise tauchen wir über Zeugen, Botschafter und Kameraden ein in die Welt von Bingo Crepuscule und das verwirrende Charadespiel mit falschen Identitäten, getauschten Namen und deutschen Stiefeln.

Mathilde fordert immer wieder das Schicksal heraus. Wenn sie droht, ihre Hoffnung zu verlieren, bestimmt sie beliebige kleine Regeln und Zeichen, die über Manechs Leben und Tod entscheiden. „Wenn ich bis sieben gezählt habe, bevor der Schaffner kommt, ist Manech tot.“ Und das Universum antwortet nicht immer eindeutig auf diese Herausforderungen. Mit Mathilde als wunderbare Leitfigur, mit zahlreichen originellen Nebenfiguren und der ungewöhnlichen Erzählweise eines eigentlich altbekannten Plots entsteht ein faszinierendes Gesamtwerk aus Kriegsimpression und romantischem Liebesdrama. Viele Nebenfiguren kommen und gehen, doch die Verwicklungen der „mörderischen Hure“ Tina Lombardi (Marion Cotillard) werden zum parallel laufenden Subplot. Lombardi sucht auf ihre Weise nach eigenen Hinweisen zu ihrem eigenen Mann, den sie im Krieg verloren haben könnte, und beeinflusst damit Mathildes Suche. „Mathilde – Eine große Liebe“ ist nicht der allergrößte Wurf in Jean-Pierre Jeunets Karriere, doch als wunderbar originelle und bewegende Kriegsromanze ist er allemal mindestens einen Blick wert.

Fazit:
Eine leicht surreal anmutende Kriegsromanze, die ganz von seiner toll gespielten Hauptfigur und Jean-Pierre Jeunets Stärken als Geschichtenerzähler und visueller Regisseur lebt.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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