Treasure Tuesday Spezialkritik: „Willkommen, Mr Chance“ („Being there“)

1. Dezember 2020, Christian Westhus

Der legendäre Peter Sellers als Sonderling in einer satirischen Dramödie vom „Harold und Maude“ Regisseur. „Willkommen, Mr. Chance“ (1979), unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Warner Bros.

Willkommen, Mr. Chance
(Originaltitel: Being There | USA 1979)
Regie: Hal Ashby
Darsteller: Peter Sellers, Shirley MacLaine, Melvyn Douglas, u.a.
Kinostart Deutschland: 19. September 1980

Was ist das für ein Film?
Nach dem satirischen Roman von Jerzy Kosiński inszeniert „Harold und Maude“ Regisseur Hal Ashby den legendären Peter Sellers als einfältigen Mann, der durch ungewöhnliche Umstände Kontakte bis in die höchsten Ränge der amerikanischen Politikwelt knüpft. Ein quasi-Vorläufer zu „Forrest Gump“ und – nebenbei bemerkt – auch der bessere Film. Sellers spielt Chance. Seit der Kindheit arbeitet der intellektuell unterentwickelte Mr. Chance als Gärtner eines wohlhabenden Mannes in Washington D.C., dessen Anwesen er seit Jahren und Jahrzehnten nicht verlassen hat. Der Fernseher ist zu einer Ersatzwelt geworden. Als sein Arbeitgeber stirbt – was Chance weder bemerkt, noch wirklich versteht – verschlägt es den naiven Mann zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder in die Realität. Prompt gerät er in einen Autounfall mit Mrs. Eve Rand (MacLaine), der deutlich jüngeren Ehefrau eines schwerkranken Millionärs. Chance stellt sich als Chance, der Gärtner vor, wird so durch ein Missverständnis zu Mr. Chauncey Gardiner (bzw. Chauncey Gärtner in der deutschen Sprachversion). Mit seiner einfältig-sanften Art, seinen Erzählungen aus der Garten- und Pflanzenwelt, die andere Leute für metaphorische Lebensweisheiten halten, sowie seiner unbeirrbaren Offenheit wird Chauncey erst bei den Rands und dann in der Washington High Society zum beliebten Thema und großen Star. Sogar der US-Präsident persönlich erwähnt Chances „Weisheiten“ im TV.

Warum sollte mich das interessieren?
Der Vergleich mit „Forrest Gump“ (1994) ist für beide Filme unfair und unvorteilhaft, ist aber auch ein stückweit unvermeidbar. Ein intellektuell „einfach“ gestrickter Mann steigt passiv, ohne echte Ambitionen und ohne aggressive Bemühungen, im amerikanischen System aus Wirtschaft und Politik auf, erreicht mit seiner naiven Art sogar die jeweiligen Präsidenten des Landes. Während Regisseur Robert Zemeckis und Star Tom Hanks „Gump“ als a-politischen Film über Menschlichkeit und positiven Lebenssinn sahen, will „Being There“ (Originaltitel) ein bissige Satire sein. Das ist ein schmaler Grat, wird Satire doch gerne und häufig missverstanden, wenn sie nicht gerade so grell und albern wie Mel Brooks (… und selbst dann…) daherkommt. „Willkommen, Mr. Chance“ will die amerikanische Gesellschaft im Allgemeinen und die Politikwelt im Speziellen sezieren. Und das in einem Film, der so aufbrausend und laut ist wie der sanft-naive Mr. Chance selbst.

Es ist einfach zu absurd und doch auch zu glaubwürdig, wie Chance mit seinen ziellosen Phrasen, seinen gehaltlosen Floskeln und seiner offen zur Schau gestellten Unwissenheit diese millionenschweren und einflussreichen Businessleute und Politiker staunen lässt. Einmal mit der Idee infiziert, dieser seltsame Chauncey Gardiner sei ein leises Genie der Politikwelt, werden bei der vermeintlichen Elite des Landes sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, um Chanceys Wesen mit diesem Image in Einklang zu bringen. Jeder vermeintliche Beweis, dass Chance nur wortwörtlich und ohne allegorische Intention übers Gärtnern spricht, der einzigen Sache die er versteht, wird uminterpretiert, um Gardiners Wissen und Lebensweisheit zu unterstreichen. Die einzige Person, die den köstlich überzogenen Reigen durchschaut, ist Chances ehemalige Nanny. Diese Afroamerikanerin weiß, wie es in Chances Verstand aussieht, und sie versteht, wie wichtige Authentizität und echter Sachverstand beim gesellschaftlichen Aufstieg in diesem Land wirklich sind.

Bei allen bissigen Kommentaren ist „Willkommen, Mr. Chance“ auch ausgesprochen witzig. Es ist kein Gag-Feuerwerk, wie es sich Fans von Sellers‘ „Pink Panther“ oder „Der Partyschreck“ (1968) vielleicht erhoffen, erinnert wenn überhaupt eher an „Dr. Seltsam“ (1964), ist aber dennoch ungemein komisch. „Harold und Maude“ Regisseur Hal Ashby war und ist schließlich auch so ein Unikat. Chaunceys Aufstieg trägt „cringe“ Charakter, wird durch wunderbare Nebenfiguren noch um einige Facetten erweitert. Die Beziehung zu Eve Rand mag wie eine etwas übereifrige Erweiterung der Grundidee wirken, doch Shirley MacLaine ist eine starke Ergänzung zum unnachahmlichen Stil von Peter Sellers. Es ist schwer vorstellbar, auch nur irgendeinen anderen Darsteller in dieser Rolle zu sehen. Wie die versuchte Satire ist Mr. Chance auch eine Rolle, die leicht in die eine oder andere Richtung kippen könnte. Sellers gelingt diesen Spagat meisterhaft. Nicht wenige Fans fassen diesen Film daher als Abschied und herausragendes Vermächtnis des ein Jahr später verstorbenen Mimen auf.

„Willkommen, Mr. Chance“ ist digital leih-/kaufbar.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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