BG Kritik: „25 Stunden – 25th Hour“ (Treasure Monday)
Ein Spike Lee Meisterwerk mit Edward Norton: Montgomery Brogan (Norton) hat 24 Stunden in Freiheit, ehe er seine Haftstrafe für Drogenhandel antreten muss. Auf seiner Abschiedstour trifft er Familie und Freunde, lässt sein Leben Revue passieren.
25 Stunden
(Originaltitel: 25th Hour | USA 2002)
Regie: Spike Lee
Darsteller: Edward Norton, Barry Pepper, Philip Seymour Hoffman, Rosario Dawson, Anna Paquin
Kinostart Deutschland: 15. Mai 2003
(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im September 2015.)
Emotionaler Ground Zero für einen Mann kurz vor Haftantritt.
Timing ist alles in und für Spike Lees meisterhaftes Charakterdrama „25 Stunden“. Eine Adaption des Romans (Erschienen 2001) des heutigen „Game of Thrones“ TV-Machers David Benioff, kombiniert Spike Lee die Tragödie vom 11. September mit der Geschichte von Montgomery „Monty“ Brogan, der für Drogenhandel verurteilt seinen letzten Tag in Freiheit verbringt. Der Film befand sich in der Planungsphase, als sich die Terroranschläge von 2001 ereigneten. Spike Lee ist als Regisseur insbesondere für zwei Eigenheiten berühmt, für seine extreme Identifizierung mit der Stadt New York und dafür, mit dem richtigen Plot vor sich seine Emotionen nahezu ungefiltert in sein Werk fließen zu lassen. Benioffs Roman kam ohne 9/11 aus und auch Lee belässt es bei Andeutungen. Doch diese Andeutungen, fast komplett durch das symbolische Intro der Lichtsäulen am Ground Zero generiert, beeinflussen alles, was wir im Folgenden sehen.
Edward Nortons Monty Brogan ist dabei einerseits ein wandelndes New York City und doch nur ein Mann in dieser wahrscheinlich berühmtesten Metropole der Welt. Lee ist zu intelligent, um diese grundlegende, tiefe Verwundung und Vernarbung seiner geliebten Heimat durch eine einzelne allegorische Figur zu verarbeiten. Lees Verbindung mit New York stellt ihn auf eine Stufe mit Martin Scorsese und Woody Allen; niemand sonst im amerikanischen Kino hat eine derartige Verbindung zu einer bestimmten Stadt. Lee nimmt Benioffs Roman und seine Figuren, um ein Prisma der Stadt zu entwerfen. In einem spannenden Hin und Her aus Gegenwartshandlung und Rückblenden entsteht ein hochkomplexes Vorher und Nachher einer Stadt durch Proxy ihrer Bewohner. „25 Stunden“ vermeidet 9/11 Symbolik, erwähnt die Anschläge kaum wirklich, belässt es tatsächlich nahezu komplett bei diesem Intro. Und doch sickert dieses Gefühl ein und macht dieses ohnehin schon wirkungsvolle und intensive Persönlichkeitsdrama noch um ein Vielfaches wirkungsvoller. Gerade weil es nicht aktiv ein Film über den 11. September ist, weil es subtiler um eine Verarbeitung eines Gefühlszustand geht, ist „25 Stunden“ vielleicht bis heute und für die weitere Zukunft der definitive Film zur definitiven Tragödie der „westlichen“ Welt im 21. Jahrhundert.
Monty Brogans letzter Tag in Freiheit ist geprägt von Wehmut, von einer melancholischen Nostalgie über die Fehler der Vergangenheit und über die Glücksmomente, die ab der 25. Stunde nicht mehr erreichbar sind, die in einem anderen Licht erstrahlen werden. Monty sucht, einerseits gezielt, andererseits gezwungenermaßen, den Kontakt zu seinen Mitmenschen, zu Familie, Freunden und Liebe. Sein Vater (Brian Cox), der stolze irische Feuerwehrmann, mit der Vater/Sohne Beziehung, die ganz gezielt durch eine Bar verkörpert wird. Montys Freundin Naturelle (Rosario Dawson) befindet sich in einem Wechselspiel aus Wut und Trauer, nicht zuletzt weil sie Monty an seinem letzten Tag in Freiheit mit so vielen Menschen teilen muss. Das Hauptaugenmerk der Gegenwartshandlung liegt jedoch bei seinen Freunden, denn mit Frank (Barry Pepper) und Jacob (Philip Seymour Hoffman) verbringt Monty die Nacht in einem Szeneclub, wo über die Vergangenheit schwadroniert und das Hier und Jetzt genossen wird. Die beiden ungleichen Freunde bilden so etwas wie gegensätzliche Pole für Monty; der aggressiv-suave Maulheld und Aufreißertyp Frank neben dem schüchternen, sozial ungeschickten Intellektuellentyp Jacob. Die Stimmung schaukelt sich hoch; von rassistischen Sticheleien seitens Frank in Richtung Naturelle, über Jacobs frühreife und minderjährige Schülerin Mary (Anna Paquin), hin zu Montys Versuch seine Drogenvergangenheit und seine Gefängniszukunft zu organisieren.
Lee nutzt seine inszenatorischen Tricks und Spleens zu bemerkenswertem Effekt. Seine wohlüberlegt gesetzten, ganz bewusst unwirklichen Double-Dolly Shots, die gleitenden Aufnahmen seiner Protagonisten entwickeln insbesondere in den Club Szenen eine enorme Wirkung, steigern den emotionalen Druck der Situation noch weiter. Und es sind die Dialoge, die maßgeblich in Erinnerung bleiben. Wenn Spike Lee will, kann er Welten bewegen ohne ein einziges gesprochenes Wort (und Lee will hier definitiv), doch als Autor und Regisseur versteht Lee auch die Macht von Dia- bzw. Monolog. Lee lässt die Wut und Verzweiflung, die Hilflosigkeit und Verwirrung seiner New Yorker Seele und seiner Filmfiguren in eine bemerkenswerte und sensationell effektive Sequenz kulminieren. Was auf dem Papier gewollt und gekünstelt wirken mag, entfaltet ausgespielt eine ungeheure Wirkung, wenn Monty auf dem Club-WC in den Spiegel schaut, eine „Fuck You“ Schmiererei auf dem Glas entdeckt und in Rage gerät. Es ist ein Moment der wirkt, weil er im restlichen Film aus einem glaubwürdigen und emotional aufgeladenen Fundament heraus entsteht. So leitet Montys New York Tirade über zum symbolischen Akt im Finale, am Morgen im Park, wenn Monty Vorbereitungen trifft, wenn bald nichts mehr so sein wird wie es war. „25 Stunden“ ist absolut bewegend, dabei gleichzeitig wunderbar sensibel und hochgradig aggressiv. Kurzum: Ein Meisterwerk.
Fazit:
Hochemotionales und mitreißendes Drama eines Mannes und der Stadt in der er lebt. Eindringlich und enorm vielseitig. Meisterhaft.
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