BG Kritik: „Carol“

23. Dezember 2019, Christian Westhus

Cate Blanchett und Rooney Mara in einem Liebesdrama nach Patricia Highsmith. New York in den 1950ern: Es braucht nur einen Blick und Therese (Mara) ist vollkommen fasziniert von der Pelz tragenden, ein paar Jahre älteren Frau, die gerade durch das Spielwarengeschäft läuft, in dem Therese als Kassiererin arbeitet. Auch Carol (Blanchett) scheint von der zurückhaltenden Therese eingenommen, lädt sie zunächst zum Mittagessen, dann nach Hause ein. Doch Carol steckt mitten im Scheidungs- und Sorgerechtsstreit mit ihrem Noch-Mann; jede moralische Kontroverse schadet ihr und der kleinen Tochter.

Carol
(USA 2015)
Regie: Todd Haynes
Darsteller: Cate Blanchett, Rooney Mara
Kinostart Deutschland: 17. Dezember 2015

„Carol“ ist eine Liebesgeschichte. Ganz simpel. Allerdings ist Liebe nie simpel.

Weil Liebe so nicht-simpel, so überaus kompliziert ist, weil sie aus der intimsten, privatesten Ecke unseres Bewusstseins kommt, weil Gelingen oder Scheitern so überwältigende Auswirkungen für uns haben, machen wir uns das Leben mit Rhetorik ein wenig leichter. Einen so komplexen psychischen und physischen Prozess überhaupt in einem einzigen Wort darstellen zu wollen ist ein tollkühner Versuch. Wir „verlieben“ uns, sagen uns, dass wir „einander lieben“ und sprechen in einer zur Phrase verkommenen Umschreibung von der „Liebe auf den ersten Blick“. Genau das erlebt Therese Belivet, als sie am anderen Ende des Verkaufsbereichs in der Spielzeugabteilung des Kaufhauses, in dem sie arbeitet, eine geheimnisvolle Frau sieht. Natürlich aber ist das, was nun in Therese und kurz darauf auch in Carol abläuft, wesentlich mehr als dieser eine Moment. Mit dem sprichwörtlichen Umlegen eines Schalters wurde nicht sofort auf „Liebe“ geschaltet, sondern ein Prozess aus Interesse und Anziehung ausgelöst. Carol will ein Weihnachtsgeschenk für ihre kleine Tochter kaufen, Therese hält nicht viel von Puppen, und nachdem sich Carol für ein anderes Geschenk entscheidet, liegen plötzlich ihre Lederhandschuhe verwaist auf dem Tresen, wie eine stumme Einladung an Therese, die Besitzerin dieser Handschuhe bitte zu kontaktieren.

Regisseur Todd Haynes und Drehbuchautorin Phyllis Nagy, die mit Romanautorin Patricia Highsmith persönlich bekannt und befreundet war, lassen die Frage unbeantwortet, ob die Handschuhe absichtlich vergessen wurden oder ob alles ein Zufall war. Carol wird den Einfluss des Zufalls später ansprechen, dass die Suche nach einer Erklärung, nach einem Warum in der Natur der Jugend liegt, dass dieses Warum am Ergebnis aber nichts ändert. Diese Begegnung im Kaufhaus setzt Dinge in Bewegung, wie der Schalter einer Modelleisenbahn diese auf Reisen schickt. Zufall ist ein Kreislauf. Todd Haynes, eine Ikone nicht zuletzt aus dem amerikanischen Queer Cinema und ein Meister, wenn es um die Nachstellung jüngerer historischer Epochen und Orte geht, inszeniert „Carol“ als Verstehensprozess von Gefühlen. Wir befinden uns im New York der 1950er Jahre. Die Vorstellung gleichgeschlechtlicher Liebe ist den meisten Menschen so fremd wie Leben auf anderen Planeten. Homosexualität gilt noch immer als behandelbare Krankheit und als ethische Untat mit juristischen Folgen. Für Carol, die gerade ihre Scheidung von Harge Aird (ein passend maskuliner Kyle Chandler) und den damit verbundenen Sorgerechtsstreit vor sich hat, könnte Therese zum Problem werden, da Gerüchte um einen vorherigen Kontakt mit einer Frau ihre Position vor Gericht ohnehin schon verschlechtern.

© Universum Film, Leonine

Für Carol ist die Idee, sich zu einer Frau hingezogen zu fühlen, nicht neu, dafür umso gefährlicher. Die jüngere Therese ist von der Liebe noch generell verunsichert, egal ob mit einem Mann oder einer Frau. Die Verkäuferin, die gerne Fotografin wäre, weiß ja noch nicht einmal, was sie zum Essen bestellen soll, macht zwar gerne Fotos, ohne jedoch zu wissen, welche Motive ihr wirklich etwas bedeuten. Da ist Richard, ein halbwegs netter, gelegentlich aufdringlicher, zumeist uninteressanter Mann, der gerne mehr von Therese hätte und bereit wäre, sie notfalls auch zu heiraten. Für Therese scheint das „Anders“ ein entscheidender Einfluss bei der Entscheidungsfindung. Carol ist für sie nicht anders, weil sie eine Frau ist, sondern weil Therese erkennt, wie sie sich Carol gegenüber anders verhält, wie sie das spürt und denkt und macht, von dem alle immer rhetorisch distanziert reden, wenn sie Liebe und Ehe meinen. Im Laufe der Geschichte kommt Therese mit drei, vier, ja vielleicht einem knappen halben Dutzend Menschen in Kontakt, die ihr „schöne Augen“ und „den Hof“ machen, die flirten und so durch die Blume ein erstes Interesse anmelden. Diese potentiellen Alternativen unterstreichen nicht nur, was zwischen Carol und Therese entsteht, sie lassen Therese auch mit jedem Mal komplexer erscheinen.

„Carol“ ist ein Film der Augen und Hände. Und des Herzens dazwischen; noch so ein rhetorischer Versuch, Emotionsdimensionen irgendwie greifbar zu machen. Weil sie wollen, aber nicht wissen, ob sie wirklich wollen, ob sie dürfen, ob der Gegenüber ähnlich fühlt, ob dieses Wollen nicht vielleicht falsch oder gar illegal ist, wird die Beziehung zwischen Carol und Therese lange Zeit beherrscht von Hemmungen. Haynes, schon immer eher ein Mann der emotionalen Zurückhaltung und Reduzierung, fängt immer wieder Blicke ein, betont darin eine unaufhaltsame Sehnsucht – immer dann, wenn der Blick von Rooney Maras faszinierend grünen Augen herüber geht zu Cate Blanchett und von dieser zurück. Dialoge sind rar und kaum mit den melodramatisch verheulten Liebesschwüren zu vergleichen, die wir für gewöhnlich mit Liebe im Kino assoziieren. Eine Hand, die in einer vermeintlich beiläufigen und doch so gewaltigen Geste auf die Schulter einer anderen Person gelegt wird, kann in diesem Film Welten bewegen. Haynes unterstreicht dieses Gefühl durch eine doppelte Dopplung, denn nicht nur kommt diese Geste von zwei Personen, wir erleben diese auch doppelt. Selbst die sonst häufig so unnötige Spielerei, nach einer Einstiegsszene zurückzublenden, ehe sich die Handlung irgendwann gegen Ende wieder einholt, gelingt Haynes hier in annähernd Perfektion.

Wunderbar authentisch und detailverliebt ausgestattet, mit Sandy Powells umwerfenden Kostümen ausgeschmückt, erinnert Haynes‘ Inszenierung an Wong Kar-Wais betörenden Zigarettenqualm-Liebesrausch „In the Mood for Love“. Hier wie dort sind die Liebenden Gefangene einer gesellschaftlichen Norm und der Unabwendbarkeit ihrer Gefühle. Auch Haynes nutzt Rahmen, Fenster, Symbole der Begrenzung, lässt in Dialogszenen immer mal wieder eine Partei hinter einer Wand oder einer Kante verschwinden. Den emotionalen Gehalt einer Romanze aus der Hemmung zu ziehen, aus kleinen Gesten und großen Blicken, ist keine Selbstverständlichkeit. Inspiriert von zeitgenössischer Fotografie liefern Haynes und sein Kameramann Edward Lachman hier in nahezu jeder Einstellung, angefangen beim allerersten Einzelbild bis zur perfekten Schlussszene, Bemerkenswertes ab, zu dem Carter Burwell einen außergewöhnlichen, in seiner melodiösen Wiederholung zuweilen an Philip Glass erinnernden Musikscore beisteuert. Doch es sind natürlich die Darsteller, die Haynes‘ Stil der subtilen Emotionalität der kleinen Gesten tatsächlich zu Leben erwecken. Cate Blanchett und Rooney Mara sind meisterhaft; nicht nur, weil sie uns so viel aus so augenscheinlich wenig geben, sondern weil sie darüber hinaus noch enorm spannende und vielschichtige Figuren spielen. Carol und Therese sind nicht einfach nur zwei Frauen in einer Liebesgeschichte zwischen Frauen, sondern zwei bemerkenswerte Charaktere, deren Selbst- und Wahrheitsfindungsprozess schon alleine einen sehenswerten Film ergeben würde.

Fazit:
Leise, zurückhaltende und dadurch enorm wirkungsvolle Liebesgeschichte, technisch herausragend inszeniert und noch besser gespielt. Zweifellos auch politisch, darin allerdings ganz ungezwungen, ohne den zentralen Figuren und ihren Gefühlen Raum oder Echtheit zu nehmen. Eine Erinnerung an die Macht romantischer Liebe.

9/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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