BG Kritik: „Lore“ (2012, Treasure Monday)

16. Juni 2020, Christian Westhus

Einer der besten jüngeren deutschsprachigen (!) Filme zur NS-Zeit kommt aus Australien: Deutschland, Mai 1945. Das 3. Reich ist geschlagen, der Führer tot. Die junge Hannelore (Rosendahl) muss als älteste Tochter eines SS-Offiziers aus dem Elternhaus flüchten und ihre vier Geschwister aus dem Schwarzwald zur Großmutter nach Hamburg führen. Der Weg durch ein gefallenes und weiter zerfallendes Deutschland stellt Lore, die sich an einem ganz bestimmten Punkt ihrer eigenen Entwicklung befindet, vor viele Fragen und schockierende Antworten. Sie wird mit der Wahrheit über ihre Eltern und ihre Heimat konfrontiert.

Lore
(Australien, Deutschland, UK 2012)
Regie: Cate Shortland
Darsteller: Saskia Rosendahl, Nele Trebs, Kai Malina u.a.
Kinostart Deutschland: 01. November 2012

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich erschienen im März 2015.)

Die Welt der jungen Hannelore, genannt Lore, wird nie wieder so sein, wie sie war. Die Jugendliche, Älteste von fünf im vornehmen Haushalt eines SS-Offiziers, beobachtet fragend und beunruhigt, wie der Vater Akten auf dem Hof zusammenhäuft, um diese zu verbrennen, und wie die Mutter den Abschied der Familie vom Haus einleitet und das Tafelsilber einpacken lässt. Lore irrt durchs Haus, als würden um sie die Mauern, die eins ihr Zuhause und ihre Familie waren, einstürzen und etwas Unbekanntes preisgeben, in dem Abscheuliches lauert. Lore sieht zu, spricht nicht viel. Dann, wie ein Riss im Gemäuer, wird ihr zum ersten Mal der Bruch mit dem unausgesprochenen Vertrag zwischen Eltern und Kindern deutlich. Der Vater lügt. Der Familienhund soll bei den Nachbarn unterkommen, doch kurz darauf hört Lore den Schuss einer Pistole.

So beginnt der bemerkenswerte Film der australischen Regisseurin Cate Shortland, die diese Geschichte auf Basis einer Novelle der britischen Autorin Rachel Seiffert erzählt. Shortland, die mit dem Adoleszenzdrama „Somersault“ mit Abbie Cornish bekannt wurde, nutzt den Schrecken des Nationalsozialismus zu mehr als nur zu einem Hintergrund, vor dem sie eine nicht unähnliche Adoleszenzgeschichte erzählt. „Lore“ ist so sehr eine Geschichte über das Erwachen der Frau in einem Mädchen, wie die Geschichte einer solchen werdenden Frau, die ihren Platz in einer neu aufgebrochenen Welt von Opfern, Tätern und Massenmördern finden muss.

© Piffl Medien

Lore wird aus einer ehemals radikal binären Schwarzweißwelt gerissen und taumelt mit ihren Geschwistern durch ein zerfließendes, wild wucherndes Chaos aus Wahrheiten und Lügen, aus sich verschiebenden Begebenheiten und unklarem Grau. Es ist ein Chaos der Ambiguität und der Verwirrung für die jugendliche Protagonistin. Die Geschwister, darunter die Zweitälteste Liesel, die Zwillinge Günther und Jürgen, sowie Säugling Peter, müssen sich in dieser neuen alten Welt umorientieren. Züge fahren nicht mehr, Nahrung ist knapp, Geld gibt es nicht mehr, nur noch Wertgegenstände. Das Land ist in Besatzungszonen aufgeteilt, Fremde haben die Kontrolle, verlangen nach Papieren und Reisegenehmigungen. An einer Sammelstelle, an der es spartanische Nahrung und die Möglichkeit zur Reinigung gibt, haben die alliierten Besatzungsmächte Fotos ausgehängt. Fotos von Massengräbern, von Hunderten und Tausenden Toten. „Lügen“, sagen manche, „Schauspieler“, sagen andere. Und dann muss Lore sehen, wie ein gelber Stern ihnen hilfreich sein kann.

Shortland, mit ihrem großartigen Kameramann Adam Arkapaw, setzt die Natur stark in Szene, taucht sie in intensive Farben. Die sehr bewegliche Kamera stilisiert die weiten Felder, die dichten Wälder und irgendwann die schlammige Endlosigkeit des Wattenmeers zu einer weiteren Hauptfigur, als würden Terrence Malick und Michael Haneke gemeinsam einen Waldspaziergang unternehmen. Es passt zu einem Film, deren Hauptfigur im Bund Deutscher Mädel eine enge Verbindung mit der grünen deutschen Heimat eingetrichtert bekam. Diese Heimat reagiert auf die Veränderung im Land, scheint selbst schon zu lange verborgen zu haben, was hinter Mauern und Türen vor sich ging. In Lore tobt ein Kampf, als die Familie zufällig einem Mann namens Thomas begegnet. Etwas löst der Anblick des Mannes in ihr aus. So wie Lores Außenwelt in Unklarheit verschwimmt, kann sie ihr eigenes Selbst nicht in Einklang bringen. Das intensive, bemerkenswert ausdrucksstarke Spiel der jungen Saskia Rosendahl macht Lores Kampf umso faszinierender. Ihr Körper, der sich nach Thomas sehnt, und ihr Geist, in dem Jahre der Nazi Ideologie das Feindbild des Juden fest verankert haben. Die Adoleszenz ist ein temporäres Zerwürfnis mit allem was war, mit der Außenwelt, den Eltern und dem Selbst. Am Ende steht ein neues Selbst. Auf diesem Weg muss Lore irgendwann eigene Entscheidungen treffen, will sie nicht im Chaos ihrer Umwelt versinken.

Fazit
Stark gespieltes, ausdrucksstark inszeniertes und inhaltlich enorm faszinierendes Adoleszenz- und Historiendrama. Die Parallelität von Individuum und Land macht die Beobachtung auf beiden Seiten spannender.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

Um an dieser Diskussion teilzunehmen, registriere dich bitte im Forum:
Zur Registrierung