BG Kritik: „Stoker – Die Unschuld endet“

7. September 2018, Christian Westhus

Das US-Debüt des „Oldboy“ Regisseurs. Nachdem Indias (Mia Wasikowska) Vater bei einem Autounfall gestorben ist, zieht Onkel Charlie (Matthew Goode), jüngerer Bruder des Verstorbenen, ins abgelegene Anwesen der Familie Stoker ein, um Witwe Evelyn (Nicole Kidman) beizustehen. Die verschlossene India traut dem mysteriösen, aber auch charmanten Onkel nicht, von dem sie nie zuvor etwas gehört hat. Ein Familiengeheimnis scheint sie und Charlie zu verbinden.

Stoker – Die Unschuld endet
(Stoker | USA, Südkorea 2013)
Regie: Park Chan-wook
Darsteller: Mia Wasikowska, Matthew Goode, Nicole Kidman
Kinostart Deutschland: 09. Mai 2013

(Diese Kritik erschien ursprünglich zum Kinostart des Films im Mai 2013.)

Erwachsen werden. Darum geht’s, wie uns India zu Beginn erklärt. An ihrem 18. Geburtstag stirbt Indias Vater durch einen Unfall. Die Veränderungen im Leben der jungen Frau, die schon vorher stattgefunden haben, werden durch den Wegfall des geliebten Elternteils noch verstärkt. Die wenig liebevolle Mutter ist zu häufig ich-bezogen und keine Hilfe. Der undurchsichtige Onkel Charlie ist Fremdkörper und Ersatzvater gleichermaßen, tritt er doch mit aller Macht in Indias Leben, macht sich dort breit und beeinflusst insbesondere Mutter Evelyn, die ihre Trauer nur zu schnell vergessen will. Ohne es wirklich zu wollen, fühlt sich India sofort mit Charlie verbunden, spürt ein wichtiges Geheimnis hinter ihm, von dem sie nur noch nicht weiß, ob es gut oder schlecht ist. „Wir müssen keine Freunde sein“, sagt India und lehnt Charlies Freundschaftsangebot nach unterkühlten ersten Tagen ab. „Wir sind Familie.“ Charles ist ein Blutsverwandter, ein richtiger Stoker. Das bleibt er, ganz egal, wie auffällig er sich verhält oder wie sehr seine Präsenz als Abholservice an Indias auffällig stereotyper High School stört. Mit einer ungewöhnlichen Symbolik aus Schuhen, Eiscreme und dem Jagdsport, der Vater und Tochter eng verband, wird Indias Reifung und Veränderung vollzogen. Das typische Erwachen von Sexualität und Persönlichkeit in einer ganz und gar untypischen Verpackung.

Obwohl themenreich und diskussionswürdig, ist die eigentliche Auflösung keine große Geschichte. Das Mysterium ist schnell gelüftet, die vermeintlich geheimen Verstrickungen nach und nach enttarnt, meist sogar relativ früh, als hätte Drehbuchautor Wentworth Miller (bekannt als Darsteller aus „Prison Break“) gar kein Interesse an großen Offenbarungen und einer genretypischen Zuspitzung. Das zuweilen konfuse, oft auch augenscheinlich banale Script springt hin und her, sammelt allerhand Anreize und verspielte Hinweise ein, um den Zuschauer bei der Stange zu halten, aber nur teilweise, um eine wirklich komplexe Geschichte zu erzählen. Spannend ist das zu einem Großteil aber dennoch, hauptsächlich, da Regisseur Park Chan-wook, wie zu erwarten war, wie wild inszeniert. Da lautet eine Szene nur „India bringt Eis in die Kühltruhe im Keller“ und Park fährt schwerste Geschütze auf, um den Weg zur Kühltruhe zum unbehaglichen, mysteriösen, fast schon mystisch aufgeladenen Horrorritual zu stilisieren.

© Searchlight Studios

Schon in seinen südkoreanischen Filmen, wie dem modernen Klassiker „Oldboy“ oder dem genial-gestörten Vampirfilm „Durst – Thirst“, bewies Park eine Vorliebe, aber auch ein glückliches Händchen für visuelles Erzählen. Auch dieses englischsprachige Debüt fasziniert und verzückt mit einer tollen Bildsprache, mit einer schwebend allgegenwärtigen Kamera, formschön-ausdrucksstarken Kostümen und Frisuren, kräftigen Farben und einer zuweilen irreal erscheinenden Ausstattung. Erst als wir nach einer knappen halben Stunde das erste Mal an Indias High School springen, wird uns wirklich bewusst, dass wir uns im 21. Jahrhundert befinden. Bis auf kleinere technische Details wirkt das Ambiente am Stoker Anwesen, wirken Kleidungsstil und Manierismen der Stokers altmodisch, wie aus der Zeit gefallen. Auffällig insbesondere der effektive Schnitt. Die betörend schön eingefangenen Bilder werden in einem dynamisch-abstrakten Sammelsurium, einem organisierten Chaos präsentiert. Insbesondere das erste Drittel fasziniert mit einem Strudel aus Rückblicken und Zeitsprüngen, Traum und Wahnvorstellungen. Eine Montage im grandiosen Rhythmus, getragen von Clint Mansells waberndem Score, mit viel Gespür für das ausgefeilte Sounddesign, für effektive Übergange, Bewegungsparallelen und einer ausgeklügelten Parallelmontage an drei, vier verschiedenen Orten und mehreren Ebenen. Allein für dieses faszinierende Spiel mit filmtechnischen Erzählmethoden gebühren dem Film Anerkennung und Aufmerksamkeit.

Dass Park Chan-wook gelegentlich dazu neigt, Stil über Inhalt zu setzen, wird hier umso deutlicher bei einem Script, das für sich genommen nun mal kein unsterbliches Meisterwerk geworden wäre. Das merkt man auch sämtlichen Figuren abseits von India an. Matthew Goode kann eigentlich überzeugen, schwankt geschickt zwischen umtriebigem Gentleman und triebgesteuertem Mysterium. Nicole Kidman, die sich mal wieder ohne zu zögern einem Regisseur zur Verfügung stellt, der sie faszinierte, egal wie „schwierig“ oder „kontrovers“ er sein mag, hat hingegen nur eingeschränkte Freude mit der etwas einsilbigen Evelyn. Wirklich viel wird ihr nicht abverlangt, beschränkt sich Evelyn doch die meiste Zeit über darauf, den Schicksalsschlag zu ignorieren. Auch Nebenrollen, wie eine ominöse Tante oder Indias klischeehaften Schulkollegen, wirken etwas formelhaft und wenig interessant. Sie sind nur notwendig, um India zu beeinflussen und in die richtige Richtung zu lenken. Denn Mia Wasikowska ist als India ein eigenes Mysterium und spätestens jetzt eine der interessantesten Jungdarstellerinnen überhaupt. Wasikowskas Spiel passt zur verspielten Inszenierung Parks und zusammen sind in erster Linie sie dafür verantwortlich, dass „Stoker“ ein ungemein faszinierendes Kuriosum ist. Ein überzeugendes US-Debüt für einen der interessantesten Genre-Regisseure unserer Zeit.

Fazit:
Die eigentliche Handlung, inklusive Geheimnis und finalem Twist, ist nicht übermäßig originell, regt jedoch zu allerhand thematischen und charakterspezifischen Überlegungen an. In erster Linie aber ist „Stoker“ eine Leinwand, an der Park Chan-wook sich austoben darf. Mit Mia Wasikowska in der faszinierenden Hauptrolle hat er dafür zudem eine herausragende Darstellerin gefunden.

8,5/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

Um an dieser Diskussion teilzunehmen, registriere dich bitte im Forum:
Zur Registrierung