BG Kritik: „Die Regenschirme von Cherbourg“

20. Juli 2020, Christian Westhus

Der französische Musical-Klassiker mit Catherine Deneuve: Die 17-jährige Geneviève liebt den jungen Automechaniker Guy. Doch als Guy in den Algerienkrieg einberufen wird und sich finanzielle Engpässe im Regenschirmgeschäft von Genevièves Mutter einstellen, gerät die junge Liebe in Schwierigkeiten.

Die Regenschirme von Cherbourg
(Les Parapluis de Cherbourg | Frankreich, Deutschland 1964)
Regie: Jacques Demy
Darsteller: Catherine Deneuve, Nino Castelnuovo
Kinostart Deutschland: 12. November 1965 (Westdeutschland)

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im September 2014.)

Es ist erstaunlich, dass das vorher noch nicht (oder nicht auffallend) versucht wurde. Jacques Demy lässt in seinem Herzschmerz Musical jeden einzelnen Dialogsatz singen, egal wie banal und alltäglich er erscheinen mag. Anders als in „großen“ Musicals, wie zuletzt in der Neuauflage von „Les Misérables“, wo jede Szene als hochstilisierter, lyrischer Gesangsbombast eskaliert, ist „Die Regenschirme von Cherbourg“ auf dem Papier ein ganz normales Drama mit ganz alltäglichen Dialogen. „Guten Morgen Mutter, wie geht es dir?“ „Danke gut, mein Kind.“ Sogar der Postbote, der einige Male kurz vorbeischaut überreicht „die Post“ im Singsang der Melodien von Komponist Michel Legrand. Selbst das Leitmotiv, das schwermütige und absolut großartige Liebesthema, das sich besonders effektiv beim Abschied am Bahnhof zeigt, wenn Guy zum Militärdienst abfährt, ist mehr schmachtend gesungener Dialog, ein Gespräch, statt eine donnernde Musicalperformance.

© Arthaus

Dem Aufeinandertreffen von Realismus und Künstlichkeit setzt Jacques Demy noch einen drauf. Der Film ist eine Augenweide, die in schillerndsten Farben erstrahlt; seien es Catherine Deneuves Kleider, bunte Tapeten oder die Ausstattung im Geschäft von Genevièves Mutter. Die von Profis eingesungenen Dialoge passen dennoch perfekt zu den ausdrucksstarken Gesichtern der jungen Liebenden. Immer wenn Geneviève und Guy zusammen sind oder getrennt von einander sehnsüchtig zum Anderen „rufen“ (singen) erfüllt die jazzige, aber beherrschte Alltagssprache jugendlich-liebender Pathos.

„Die Regenschirme von Cherbourg“ ist Kitsch. Die Geschichte ist ein Groschenroman-Schmachtfetzen erster Klasse, doch wie Baz Lauhrman Jahre später mit „Moulin Rouge“, macht Demy aus der vermeintlich minderwertigen, altbekannten und klischeehaften Geschichte ein hochemotionales, mitreißendes und jederzeit fühlbares Meisterwerk. Demy erzählt kein tiefenpsychologisches Drama, was schneller akzeptieren lässt, dass die eine oder andere Entscheidung ein wenig früher oder einfacher kommt, als man vermuten würde. Catherine Deneuve, hier vielleicht auf dem Höhepunkt ihrer jugendlich-kühlen Schönheit, und Nino Castelnuovo sind famos. Die jungen Liebenden, die sich mit Haut und Haaren verliebt glauben, die von verschiedenen Erwachsenen, von Veteranen der auf den Boden der Tatsachen zurückgeholten Liebe unterrichtet werden, sind als Kämpfen gegen die Wirren des Alltags, gegen die eigene Zukunftsangst und als Opfer des Schicksals faszinierende Wegbegleiter. Michel Legrands Musik leitet uns in einem einzigen beschwingten Tanz durch emotionale Höhen und Tiefen, bis hin zum so ungewöhnlichen und fantastischen Finale.

Fazit:
Hochemotionales und audiovisuell großartiges Kitsch-Musical. Ein Meisterwerk.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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