BG Kritik: „Inherent Vice – Natürliche Mängel“

20. Januar 2020, Christian Westhus

Der neue PT Anderson nach dem Roman von Thomas Pynchon: Es ist 1970 und Privatdetektiv Doc Sportello (Joaquin Phoenix) verbringt seine Zeit in erster Linie damit, entspannt abzuhängen und sich zudröhnen zu lassen. Dann taucht seine Ex Shasta (Katherine Waterston) auf und bittet den verpeilten Schnüffler ihr aus einer misslichen Lage zu helfen. Kurz darauf ist Shasta verschwunden, genau wie der millionenschwere Immobilienmagnat, mit dem sie sich zuletzt abgab. Sportello versucht der chaotischen Lage Herr zu werden.

Inherent Vice: Natürliche Mängel
(Originaltitel: Inherent Vice | USA 2014)
Regie: Paul Thomas Anderson
Darsteller: Joaquin Phoenix, Josh Brolin, Katherine Waterston, Owen Wilson, Joanna Newsom, Jena Malone, Reese Witherspoon, Martin Short, Benicio del Toro, u.a.
Kinostart Deutschland: 12. Februar 2015

(Diese Kritik erschien ursprünglich zum Kinostart des Films im Februar 2015.)

Thomas Pynchon gilt als einer der besten, aber auch schwierigsten Autoren unserer Zeit. Sein enigmatisches Auftreten trägt dazu bei; nahezu komplett ohne öffentliche Auftritte, zurückgezogen nicht nur vom öffentlichen Literaturzirkel, sondern größtenteils auch von der Außenwelt generell. Paul Thomas Anderson, der vielleicht beste amerikanische Regisseur unter 50, ist nun der Erste, der ein Werk Pynchons fürs Kino adaptiert.

Pynchons Welt der Cannabis durchwehten 70er an der US Westküste, die sich noch immer in den 60ern wähnt, ist so randvoll mit Subplots, schrägen Einfällen und noch schrägeren Figuren, wie die Prosa seiner Romane mit Ideen und literarischer Klasse dicht ist. Auf seiner irren und irre komischen Odyssee durch den detektivischen Auftrag, der bald aus mindestens drei eigentlich eigenständigen Aufträgen besteht, trifft Doc Sportello auf engstirnige Cops, auf Kokain bunkernde Zahnärzte, auf Hippie Kollegen, Saxophonisten mit Problemen, Prostituierte, ausreißende Teens, auf Nazis und auf Juden, die sich für Nazis halten. Die wild verwurzelte Quasi-Verschwörung mit Entführungen, Drogenkartellen und diversen wandlungsfähigen Liebschaften wächst Doc bald über seinen zugekifften Kopf. Und doch ist unser verpeilter Held kein Trottel. Einen gewissen Riecher hat er und eine drogengestärkte Dreistigkeit, die ihn unbekümmert weiterforschen lässt, obwohl er sich schon unrettbar im Schlamassel befindet.

Durch dieses Chaos werden wir und Doc Sportello von Sortilège geführt. Im Buch eine Randfigur erweitert Anderson ihre Rolle und ihren Aufgabenbereich, gibt sich Sortilège doch als Docs freundschaftliche Vertraute und als entkörperlichte Erzählerin, gespielt und gesprochen von der großartigen Folk-Harfistin Joanna Newsom, deren einzigartige Stimme auch in der deutschen Synchro ein passend quäkendes Pendant gefunden hat. Am Ende können wir nicht sicher sein, ob Sortilège real ist bzw. ob sie es in jeder ihrer Szenen ist. Irgendwas stimmt nicht in dieser Welt der ausklingenden Wunderdekade der 60er, die noch in diese frisch angebrochenen 1970er schwappt. Bald schon gehört Doc Sportello zu den normalsten Figuren dieses Kuriositätenkabinetts. Paul Thomas Anderson hat es noch nie an Ambitionen gemangelt und so führt er in der rigoros zielstrebigen Inszenierungsart seiner letzten beiden Filme durch eine Geschichte, die sich nicht nur auf schrille Typen und Kiffer-Gags reduzieren lässt, obwohl es eine lange Zeit genau so wirkt. Wenn der grandios aufgelegte Josh Brolin an einer Schokobanane knabbert und dabei ungläubig von Joaquin Phoenix beäugt wird, darf man aber dennoch dem unvermeidlichen Reflex des laut Hervorlachens folgen.

© Warner Bros

Das Chaos des Falls, den Doc Sportello lösen soll, ist am Ende nur halb so kompliziert, wie es zunächst den Anschein machte. Die Sache nimmt viele Abzweigungen über viele undurchschaubare oder unzurechnungsfähige Figuren, aber einmal am provisorischen Ende angelangt, wenn sich der Nebel des Kampfes und der Drogen gelichtet hat, war der Fall halb so wild wie er zwischendurch schien. Doch wenn es so weit ist dürfen wir auch schon längst durchschaut haben, dass es gar nicht wirklich um den Fall ging. „Inherent Vice“ klingt zunächst, als wäre der Dude aus dem Coen Klassiker „The Big Lebowski“ zum Hauptermittler eines 70er Jahre Krimis umfunktioniert worden, beispielsweise für Robert Altmans „Der Tod kennt keine Wiederkehr“. Doch Fans von Jeff Bridges‘ schluffigem White Russian Trinker sollten nicht zu früh glücksfeuchte Augen kriegen, denn Anderson und Pynchon haben andere Dinge vor. In der Produktion zu Andersons „The Master“ angefangen, wirkt „Inherent Vice“ wie der zugedröhnte Partnerfilm zu „The Master“. Zumindest lässt die Besetzung von Joaquin Phoenix, der in beiden Filmen die Hauptrolle spielt, faszinierende Beobachtungen zu, die spätestens beim Finale, wenn Anderson einmal mehr einen wehmütig-romantischen Blick auf Freundschaften und Liebe wirft, kaum mehr zu ignorieren sind.

In beiden Filmen befindet sich Joaquin Phoenix auf einer Suche, in unterschiedlichen Abstufungen auf einer Suche nach sich selbst, nach einer Aufgabe, nach einer Liebe und nach einem Ort bzw. einer Person zum Festhalten. In „Inherent Vice“ kennt Phoenix den eigentlichen Impuls seiner Suche nicht bzw. ist sich über seine emotionale Verbindung zu einer Person nicht bewusst. Gegen Ende, wie in „The Master“, begegnet Phoenix einem Mann und einer Frau, auf die er mit neu gewonnenen und gleichgebliebenen Eindrücken reagiert. Phoenix leistet hier mehr, als nur der verpeilte Schnüffler und verranzte Hippie zu sein. Seine Reaktionen, seine Körpersprache und insbesondere seine Blicke zeugen von einem fantastischen Sinn fürs Komische und Absurde, ist „Inherent Vice“ doch ohne Frage äußerst unterhaltsam. Doch nie verlieren wir in Phoenix den Suchenden und Verletzten aus den Augen. Es braucht nicht erst eine Begegnung mit Ex-Freundin Shasta, gespielt von der bemerkenswerten „Neuentdeckung“ Katherine Waterston, um das Lachen im Halse stecken zu lassen. Und dennoch sitzt dieser fantastisch inszenierte Moment, ragt wie ein unheilschwangeres Monument aus einem Film hervor, der eigentlich durchgängig wie eine locker-schrullige Kiffer-Krimikomödie gewirkt hat.

Fazit:
Eigenwillige Kiffer-Krimi-Romanzen-Groteske. Edel inszeniert, grandios gespielt und inhaltlich so faszinierend wie unterhaltsam – wenn man einen Zugang zu Paul Thomas Andersons Version von Thomas Pynchons Welt findet.

8/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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