Treasure Tuesday Spezialkritik: Mein Freund Harvey

28. Juli 2020, Christian Westhus

Ein Hollywood-Klassiker mit einem der größten Stars der Filmgeschichte in der Hauptrolle: James Stewart hat in „Mein Freund Harvey“ (1950) ein Riesenkaninchen zum besten Freund, das nur er sehen kann. Unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Universal Pictures

Mein Freund Harvey
(Originaltitel: Harvey | USA 1950)
Regie: Henry Koster
Darsteller: James Stewart, Josephine Hull, Peggy Dow, u.a.

Was ist das für ein Film?
James Stewart war einer der absolut größten Stars der Ära des „Klassischen Hollywoods“, mit bis heute bekannten Auftritten in den Frank Capra Klassikern „Mr. Smith geht nach Washington“ (1939) und „Ist das Leben nicht schön?“ (1946), der oscarprämierten Rolle im Screwball-Klassiker „The Philadelphia Story“ (1940), dem großartigen Western „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ (1962) und Hitchcock-Klassikern wie „Das Fenster zum Hof“ (1954) und „Vertigo“ (1958). „Mein Freund Harvey“, für den Stewart eine seiner fünf Oscarnominierungen erhielt, wird in dieser immensen und erfolgreichen Filmographie gerne mal vergessen, obwohl Stewart in seiner amerikanischen Heimat gerade auf diesen Film besonders häufig angesprochen wurde.

Stewart spielt Elwood P. Dowd, einen etwas eigentümlichen, aber überaus liebenswerten Mann. Elwood ist nicht mehr jung, ist unverheiratet und verbringt seine Abende gerne beim Spaziergang durch die Stadt oder in seiner Lieblingsbar, die wie eine Ersatzfamilie geworden ist. Immer an seiner Seite ist Elwoods Kumpel Harvey, der zufälligerweise ein zwei Meter großes Kaninchen auf zwei Beinen ist. Nichts Besonderes also. Der Haken? Niemand außer Elwood kann Harvey sehen oder hören. Dies führt insbesondere bei Elwoods Schwester Veta (Josephine Hull – oscarprämiert) zu Irritationen und Sorge, nicht zuletzt da Elwood Alleinerbe des Familienbesitzes inklusive Haus und Finanzen ist. Eine psychiatrische Untersuchung oder am besten eine direkte Überführung ins Sanatorium soll Vetas Sorgen lindern, doch der gutherzige Elwood, der zu keiner Zeit eine Bedrohung, eine Gefahr oder eine böswillige Intention vermutet, kann sich unwissentlich immer wieder herauswinden und bringt so weitreichende Dinge in Bewegung.

Warum sollte mich das interessieren?
Da wäre zum einen der angesprochene Faktor Jimmy Stewart. Man kann seinen Status in der Geschichte Hollywoods nicht überbewerten. Fast alle seiner bekannteren und erfolgreichen Filme sind mindestens einen Blick wert und unter den weniger bekannten Fällen schlummern vermutlich noch weitere Besonderheiten, die es zu entdecken gilt. In gewisser Weise ist „Mein Freund Harvey“ der nächste Schritt für jeden Zuschauer, der mit „Ist das Leben nicht schön?“ („It’s a Wonderful Life“) vertraut ist. Elwood P. Dowd ist eine Figur, die in ihrer positiven Ausstrahlung nur zu gut in diesen Weihnachtsklassiker gepasst hätte. „Man kann auf zwei Wegen gut durch das Leben kommen“, erklärt Elwood im Laufe des Films, „entweder man ist sehr schlau oder sehr freundlich. Früher war ich sehr schlau, nun bin ich sehr freundlich.“ Doch wo „Ist das Leben nicht schön?“ durch die dunkleren Aspekte des Lebens watet, um am Ende in herzzerreißend-effektivem Kitsch zu münden, wie ihn offenbar nur Frank Capra wirklich zu inszenieren wusste, behält „Mein Freund Harvey“ immerzu ein paar graue und dunklere Sprenkel in seiner lebensbejahend-optimistischen Attitüde.

„Harvey“ begann für und auf der Bühne, was der Erzählweise und dem Handlungsaufbau durchaus anzusehen ist. Und auch wenn Regisseur Henry Koster womöglich kein so begnadeter Virtuose im Umgang mit Inszenierung und der Verbindung vermeintlich widersprüchlicher Töne ist, wie eben Capra oder George Cukor, so bietet die bescheidene visuelle Präsentation doch den passenden Hintergrund bzw. das passende Fundament für die Kernelemente des Films: das bemerkenswert clevere Script, oft herrlich komisch und doch immer wieder lebensweise, und natürlich Stewarts herausragende Darstellungsleistung. Auch wenn Schwester Veta und die engagierten Ärzte das Phänomen Harvey analysieren, beweisen oder widerlegen wollen, geht es der Geschichte gar nicht so sehr um die Frage, ob Harvey wirklich existiert oder nicht. Harvey hat, ob real oder nicht, eine Bedeutung für und einen Einfluss auf Elwood. Und mit Harvey hat Elwood eine Bedeutung für und einen Einfluss auf seine Umwelt und Mitmenschen. Muss man Elwood also wirklich von Harvey „heilen“?

„Mein Freund Harvey“ ist auf DVD und BD erhältlich, sowie bei Amazon, YT, iTunes und Google zu leihen.

Du willst noch mehr spezielle Geheimtipps und Filmempfehlungen? Die gesammelten Treasure Tuesday und ältere Treasure Monday Rezensionen gibt es hier!

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

Um an dieser Diskussion teilzunehmen, registriere dich bitte im Forum:
Zur Registrierung