Treasure Tuesday Spezialkritik: „Strange Days“

29. Dezember 2020, Christian Westhus

Das fiktive L.A. von 1999 blickt dem neuen Jahrtausend entgegen. Y2K steht bevor und Ex-Cop Ralph Fiennes dealt mit aufgezeichneten Erinnerungen. Nahzukunft Sci-Fi von Regisseurin Kathryn Bigelow, nach einer Idee von James Cameron. „Strange Days“ (1995), unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Koch Media / 20th Century Studio

Strange Days
(USA 1995)
Regie: Kathryn Bigelow
Darsteller: Ralph Fiennes, Angela Bassett, Juliette Lewis, Tom Sizemore, Vincent D’Onofrio, u.a.
Kinostart Deutschland: 01. Februar 1996

Was ist das für ein Film?
Cyberpunk Sci-Fi von 1995, in der Kathryn Bigelow und James Cameron (Idee, sowie Drehbuch mit Jay Cocks) ein leicht außer Kontrolle geratenes Los Angeles kurz vor dem Jahreswechsel 1999/2000 erschaffen. Die Angst vor dem Y2K Weltuntergang geht um und L.A.s Straßen sind bevölkert von sozialen Protesten und hochmilitarisierten Polizisten. Nach dem Tod des afroamerikanischen Musikers und Aktivisten Jeriko One erreicht die Stimmung ihren Siedepunkt. Lenny Nero (Ralph Fiennes) war selbst einmal ein Cop, ein vermeintlicher Gesetzeshüter. Heute dealt er mit Squids, mit Replay. Ursprünglich ein Sicherheits- und Kontrollsystem für die Polizei, welches die Aufzeichnung und Wiedergabe von persönlicher Wahrnehmung ermöglicht, gelangte das System auf die Straßen und den Schwarzmarkt. Nero ist zu einem schmierigen Dealer geworden, seine Virtual Reality Erinnerungsclips wahlweise billige Erotikszenen oder kriminelle Aufzeichnungen. Zu sehr hängt Lenny noch am Verlust seiner Ex-Freundin Faith (Juliette Lewis), die sich nun mit dem zwielichtigen Musikproduzenten Philo Gant abgibt. Erst die Notlage einer alten Bekannten reißt Lenny aus seiner Teilnahmslosigkeit, der mit Kumpel Max (Tom Sizemore) und Securityarbeiterin Mace (Angela Bassett – saucool) nicht nur in eine größere Verschwörung stolpert, sondern feststellt, dass er längst bis zum Hals drinsteckt.

Warum sollte mich das interessieren?
Es gibt viele Gründe, „Strange Days“ als seltsam und ungewöhnlich zu bezeichnen. Zum allergrößten Teil ist es ein positives „seltsam und ungewöhnlich“, denn es gibt wirklich nicht viele Filme, die sich so anfühlen wie dieser. Dabei springen einige Ähnlichkeiten sofort ins Auge. Der Handel mit digitalisierten „mentalen Daten“ ist nicht neu, ist ein Standard der Cyberpunkidee. Man entdeckt Ähnlichkeiten zu „Blade Runner“, „The Matrix“ oder auch „Johnny Mnemonic“, doch eine gewisse Eigenständigkeit und Unverkennbarkeit behält „Strange Days“ immerzu. Die Sci-Fi Cyberpunkt-Prämisse ist eigentlich auch ein beinharter Krimi, eine Art Noir, ein tragisch-romantisches Drama, teilweise ein Actionfilm und immerzu ein politisch aufgeladener Thriller. Keine fünf Jahre ging es im Entstehungsjahr 1995 in die Zukunft. Die Umstände dieser Nahzukunft waren damals real und unmittelbar „jetzt“. Diesen Film im Jahr 2020 (oder darüber hinaus) zu schauen, wirkt wie eine seltsam verdrehte Zeitreise, die in ihren Äußerlichkeiten (Mode, Club Kultur, Sprache, Technologievorstellungen) erheitert und in ihrer politischen Aktualität verängstigt.

Die „Replay“ Aufzeichnungen mutieren von „sleazy“ Schwarzmarktunterhaltung zu unwiderlegbaren Beweisen in einem schwerwiegenden Straffall. Diese Filme sind das, was heute Body Cams und Smartphone Videos sind, insbesondere dann, wenn sie im Kontext sozialer Proteste und Polizeivorgehen (bzw. -vergehen) verwendet werden. „Strange Days“ ist auch ein Blick auf das frühe Schaffen von Kathryn Bigelow, die in den 80ern und 90ern das Image der „einen“ Frau im vermeintlich männlichen Genrekino innehatte, ehe sie mit „Hurt Locker“ und „Zero Dark Thirty“ ins angeblich anspruchsvollere, realpolitische Sujet wechselte. So beginnt „Strange Days“ mit einer noch immer beeindruckenden One Shot Szene aus der Egoperspektive, wenn wir per Replay nicht nur Zeugen eines Raubüberfalls werden, sondern in die Rolle der Täter schlüpfen. Der Film spielt mit dem Voyeurismusaspekt der Technologie, führt diesen in einer abscheulichen Gewalttat vor, auch wenn die Kamera den eigenen Verlockungen hier und da erliegt. Das erste Drittel kommt etwas behäbig ins Rollen, entwirft aber ein gelungenes Fundament für Figuren, Gesellschaft und Szenario. Besonders spannend aber die thematischen und politischen Dimensionen dieses Stoffs, die in den letzten 25 Jahren nicht nur (leider) nichts in ihrer Aktualität eingebüßt haben, sondern sich in dieser Genre-Version wunderbar mit Bigelows späterem Werk ergänzen. In gewisser Weise ist sie hier bereits dort unterwegs, wo sie mit „Detroit“ noch einmal hin zurückkehren sollte. Und auch James Cameron, der sich dieses kuriose Cyberpunk Sci-Fi-Noir Geschehen ausgedacht hat, kennt einige dieser Aspekte. Es ist kein Zufall, warum er den T1000 in „T2“ derart „kostümiert“ herumlaufen ließ.

Auf DVD/BD/VOD erhältlich.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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