BG Kritik: „Die Zeit der Wölfe“

7. August 2020, Christian Westhus

Märchen-Horror-Fantasy vom Regisseur von „Interview mit einem Vampir“: In Rosaleens Traumwelt warnt die Großmutter das junge Mädchen vor den gefährlichen Wölfen, auch vor solchen, die auf den ersten Blick nicht wie Wölfe aussehen. Tatsächlich scheint sich in den Wäldern um das kleine Dorf ein Wolf herumzutreiben. Mit ihrem neuen roten Umhang macht sich Rosaleen erneut auf, die Großmutter zu besuchen.

Die Zeit der Wölfe
(Originaltitel: The Company of Wolves | UK 1984)
Regie: Neil Jordan
Darsteller: Sarah Patterson, Angela Lansbury, David Warner, Tusse Silberg, Stephen Rea
Kinostart Deutschland: 08. März 1985 (Westdeutschland)

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im Januar 2015.)

Lange bevor das Eventkino des neuen Jahrtausends einen akuten Märchenfilm-Fimmel entwickelte, zeigten Regisseur Neil Jordan und Autorin Angela Carter, wie man aus Märchenmotiven mehr machen kann als computergetränkten Rabatz.

Die Geschichte von Rotkäppchen gehört als sexuell aufgeladene Pubertätsparabel zu den eindeutigsten Märchen überhaupt. Einen Disney Rotkäppchen-Film gibt es demzufolge natürlich nicht. Der spätere „Interview mit einem Vampir“ Regisseur Neil Jordan und Angela Carter, aus deren von Märchen inspirierten Kurzgeschichtensammlung der Stoff dieses Films entnommen wurde, nehmen sich dieser grundlegenden Auslegung Rotkäppchens mit Wonne an. „Die Zeit der Wölfe“ ist eine einzige große Metapher, durchzogen mit allegorischen und symbolischen Bildern. Damit dies auch jedem klar wird, fügen Jordan und Carter einen Rahmen hinzu. Die junge Rosaleen wird langsam erwachsen. Sie probiert den Lippenstift ihrer älteren Schwester aus und gibt zu verstehen, nicht mehr viel länger ein Mädchen zu sein. So träumt sie sich in einer fulminanten ersten Szene in einen finsteren Horrormärchenwald, durch den ihre Schwester irrt und vor Wölfen flüchtet. Die Rosaleen dieser ihrer Traumwelt soll nach Möglichkeit nicht von Wölfen gefressen werden, soll sich von Gefahr fern halten. Mit stetem Rat zur Seite steht dabei die Großmutter.

Neil Jordan lässt keinen Zweifel daran, wo diese Bilder herkommen. Rosaleens Kinderzimmer wird lebendig, mutiert samt kartoffelgesichtiger Puppe und Großmütterchen zu einem fantastischen Gruselwald. Dichte Nebelschwaden ziehen über das Areal, das vom dichten Blätterdach fast durchgängig vom Tageslicht abgeschirmt scheint. George Fentons effektiv mysteriöse Musik verleiht der tollen Ausstattung eine noch stärkere Wirkung. Gewaltige Pilze ragen in die Höhe und Schlangen baumeln von den Ästen, wenn die noch unschuldige Rosaleen umherwandert und sich nach anfänglichem Zögern überreden lässt, sich von einem jugendlichen Verehrer begleiten zu lassen. Die Wölfe, als eine andersweltliche Präsenz in einem ohnehin unwirklich erscheinenden Traumgebilde, lassen nicht lange auf sich warten. Wenn es dann erwartungsgemäß zu den Transformationen kommt, erinnert dies weniger an bekannte Werwolftransformationen des Kinos, sondern eher – wenn auch qualitativ zwangsläufig simpler – an John Carpenters „Das Ding“ oder David Cronenbergs „Die Fliege“.

© Concorde

Doch „Die Zeit der Wölfe“ ist kein Horrorfilm. Nicht im eigentlichen Sinne. Wir befinden uns im Unterbewusstsein eines Mädchens das spürt, wie etwas in ihr vorgeht, wie sie sich verändert. Rosaleens Großmutter spricht Warnungen aus, nicht zuletzt da Rosaleens ältere Schwester ja bereits verloren ist. Großmutter warnt davor, vom rechten Weg abzukommen, von Gottes Pfad abzukommen, und sie warnt vor Männern. Genauer, sie warnt vor Männern, deren Augenbrauen zusammenwachsen. Wölfe, die ihr Fell innen tragen, nicht außen, seien die größte Gefahr für ein junges Mädchen. Rosaleen bekommt aus verschiedenen Richtungen und Generationen Warnungen und Maßregeln mit auf den Weg. Nachdem sie ihre Eltern in der Nacht beim Sex beobachtete, fragt sie ihre Mutter, da sie den sexuellen Akt nicht einordnen kann, ob der Vater der Mutter wehtue, ob er ein „Wolf“ sei, im Sinne der Großmutter. Doch die Mutter verneint und versucht Rosaleens Blick zu schärfen, ihn dem Einfluss der Großmuttergeneration ein wenig zu entziehen. Das Biest in einem Mann gebe es genauso auch in Frauen, sagt die Mutter. Für uns ist klar, was mit der wölfischen Bedrohung gemeint ist, doch Rosaleen hat ihre Prüfung noch zu bestehen. Sarah Pattersons wunderbar puppenhaftes Gesicht, zu gleichen Teilen reine Unschuld und Lolita, macht Rosaleens Reise durchs allegorische Unterbewusstsein noch reizvoller.

Jordan und Carter erweitern das Bildarsenal mit bewusst abstrakten Motiven und Binnenerzählungen. Großmutter erzählt zum Beispiel von einer Frau, die einen Mann heiratete, dessen Augenbrauen zusammenwachsen. Carter und Jordan belassen es aber nicht bei dem einen Wolf, sondern fügen eine zweite männliche Figur in diese erzählte Warnung ein, so dass unsere junge Heldin schwört willensstark und wachsam zu sein. Es soll nicht die einzige kleine Zwischenepisode bleiben, die Rosaleens Traumwelt und damit diesen Film um allegorisch aufgeladene kleine Geschichten zu erweitern. In mal mehr, mal weniger abstrakten Schilderungen erhalten wir und Rosaleen Einblick in die verwirrende Welt der Erwachsenen, mit widersprüchlicher Moral, mit Machtgefügen und dem großen Mysterium Sexualität. Rosaleens elterliche und großelterliche Beschützer sind nicht objektiv, aber das macht ihre Warnungen auch nicht unwahr.

Fazit:
Symbolisch aufgeladene und thematisch reizvolle Rotkäppchen Version. Ein faszinierender anderer, zielgerichteter Blick auf die Deutungswelten des Märchens, visuell höchst interessant umgesetzt.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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