Treasure Tuesday Spezialkritik: „Weekend“ (2011)
Intensives Indie-Liebesdrama aus England. Andrew Haighs „Weekend“ (2011), unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.
Weekend
(UK 2011)
Regie: Andrew Haigh
Darsteller: Tom Cullen, Chris New
Kinostart Deutschland: 14. Januar 2012
Was ist das für ein Film?
Der erste große Indie-Durchbruch für Filmemacher Andrew Haigh, der die gefeierten und ebenfalls sehenswerten „45 Years“ und „Lean on Pete“ auf dieses intensive kleine Liebesdrama folgen ließ. Russell (Tom Cullen) bricht einen Abend mit Freunden früh ab und geht in den Club. Er interessiert sich für Glen (Chris New), bei dem er aber abblitzt. Am nächsten Morgen befindet sich dann aber doch irgendwie Glen in Russells kleiner Wohnung in Nottingham. Beim ersten Kaffee lernen sich die beiden Männer etwas besser kennen, haben eigentlich komplett unterschiedliche Persönlichkeiten: während Glen offen und selbstbewusst ist, gibt sich Russell verschlossen und introvertiert, nicht nur in Bezug auf seine Homosexualität, von der kaum jemand weiß. Glen versucht den „wahren“ Russell herauszulocken, u.a. mit Tonbandaufnahmen und offenen Gesprächen, die er für ein Kunstprojekt braucht. Also treffen sich beide weiter, lernen sich genauer kennen, bis sich für einen von ihnen ein räumlicher Wechsel anbahnt.
Warum sollte mich das interessieren?
„Brokeback Mountain“ kann jeder. Und sollte jeder, ist der Oscargewinner, der nicht selten als entscheidender Schritt nach vorne im Umgang des Mainstreamkinos mit nicht-heterosexuellen Liebesgeschichten bezeichnet wird, doch absolut sehenswert. „Weekend“ könnte der nächste Schritt sein, wenn man „Brokeback Mountain“ oder vielleicht auch „Moonlight“ mitgegangen ist. Doch nicht nur ist Andrew Haighs umwerfend realitätsnaher und authentischer Film weit entfernt vom Hollywood-Melodrama des einen und von der stilistisch-erzählerischen Extravaganz des anderen großen Vorbilds, auch hat es dieser Film gar nicht nötig, auf diese thematischen Gemeinsamkeiten reduziert zu werden. „Weekend“ ist ein Liebesfilm, wie es ihn selten gibt. Nah an den Figuren, objektiv in seiner Bildsprache, unaufdringlich und doch direkt und intensiv, wenn es wichtig ist.
Mit einer zuweilen dokumentarisch anmutenden Art stellt uns Regisseur und Drehbuchautor Haigh seine beiden Protagonisten vor, insbesondere Russell. Die Begegnung und das Kennenlernen wirken kaum dramatisiert und so sind wir am ersten Morgen und nach dem ersten persönlichen Gespräch vollkommen mitgerissen, wie wir in wunderbar lebensnahen Nuancen beobachten können, wie sich zwei Menschen kennen lernen, wie sie die gegenseitige Sympathie und Anziehung spüren, wie sie einander entdecken. Die augenscheinlich konträren Persönlichkeiten von Russell und Glen machen diesen Prozess spannend, mit mal cleveren, mal gewitzten, mal persönlicheren Gespräch, die jederzeit glaubwürdig und nachvollziehbar wirken. Zudem sind Tom Cullen und Chris New in den jeweiligen Rollen perfekt gewählt für die realistische „Indie“ Präsentation des Films. Natürlich befasst sich auch dieser Film mit der Psychologie des vermeintlichen „Anderssein“, mit der Angst vor und den Konsequenzen des Coming-Outs. Doch statt ermüdendes Mitleidsdrama daraus zu machen, steht hier mit Russell eine komplexe, multidimensionale Figur im Vordergrund und schwingen entscheidende gesellschaftliche Details mit, die den Film aber keineswegs erdrücken. Spätestens beim Endspurt und bei der intensiven Schlussszene spürt man den Wirkungsgrat dieses großen kleinen Films. So bewegt sich „Weekend“ irgendwo zwischen „Before Sunrise“ und „Carol“; sowohl inhaltlich, stimmungsmäßig und erstaunlicherweise auch zu großen Teilen qualitativ. Ein viel größeres Kompliment kann es fast nicht geben.
„Weekend“ ist auf DVD/BD erhältlich. Aktuell zudem bei realeyz und Sooner per Abo guckbar.
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