BG TV-Kritik: „Fleabag“ (Staffel 1 + 2)

13. Februar 2021, Christian Westhus

Phoebe Waller-Bridge gehört als Darstellerin und Autorin zu den größten Stars der aktuellen TV- und Kino-Welt. „Killing Eve“, das Script zum neuen Bond und zahlreiche Emmys waren die Folgen, doch diese Serie, die als Solo-Theaterstück begann, war Anfang und Durchbruch. „Fleabag“, zu sehen bei Amazon Prime Video.

Fleabag
(UK 2016 – 2019)
Entwickler: Phoebe Waller-Bridge
Sender: Amazon Prime Video
Episoden: 2 Staffeln je 6 Episoden
Darsteller: Phoebe Waller-Bridge, Sian Clifford, Olivia Colman, Andrew Scott, u.a.
Ausstrahlung Deutschland: 03. Februar 2017 (Amazon Prime Video)

Was Deadpool kann, kann Phoebe Waller-Bridge noch viel besser. Die Hauptfigur ihrer eigenen Dramedy, die als Solo-Theaterstück in London begann, durchbricht ständig die viel zitierte und grundsätzlich kaum mehr existente Vierte Wand. Warum auch nicht, wenn jemand derartig hinreißende Reaction Shots beherrscht und uns mit derart pointierten Beschreibungen beglückt, in denen gleichermaßen heiter-bissige Alltagsbeobachtungen und kaum kaschierte Selbstverletzung stecken. Waller-Bridges Figur Fleabag ist eine selbst ernannte Chaosfrau – daher der Name, der nicht wirklich hörbar genannt wird, der aber dennoch irgendwie ständig präsent ist. Gleich in der allerersten Szene begrüßt Fleabag ihren Freund/Liebhaber/Sex-Kumpel zu einem abendlichen Date, welches, wie sie uns unmissverständlich und mit einem süffisanten Grinsen erklärt, über Analsex führt. No big deal.

„Fleabag“ ist eine Dramedy. Was auch immer man heutzutage unter diesem Fusionsgenre versteht. Es ist eine Serie, die oft – wirklich oft – gnadenlos und zum Schreien komisch ist, die süffisante rhetorische Schmankerl und geradezu absurdistische Situationskomik bereithält, die aber gleichzeitig eine immerzu präsente und spürbare Tragik und Dunkelheit mitträgt. Dieser Stimmungsspagat ist eine enorme kreative Herausforderung, droht die eine Seite doch immer die andere Seite zu untergraben. Schon dafür kann man Schöpferin, Autorin und Hauptdarstellerin Phoebe Waller-Bridge nicht ausreichend loben. Es ist aber auch eine Herausforderung für den Zuschauer. (Fast) Alles steht und fällt damit, ob man einen Zugang zu Hauptfigur Fleabag finden kann. Die Person Fleabag gehört zu den anschaulichsten Fallbeispielen, dass man eine fiktive Figur nicht unbedingt sympathisch finden muss, um einer Geschichte zu folgen, solange man die Menschlichkeit der Figur erkennt und akzeptiert. Nicht ohne Grund wird unsere Protagonistin mit diesem Namen präsentiert, einem Namen, den sie so garantiert nicht von ihren Eltern erhalten hat. Fleabag beschreibt im britisch-englischen Gebrauch eine schmutzige oder unangenehme Person. Und das kann diese Fleabag zweifellos sein, was nicht unbedingt heißt, dass sie sich selbst für das oder die Größte hält.

© Two Brothers Pictures / Amazon Prime Video

Staffel 1 legt den Grundstein für Wesen und Leben von Fleabag. Chaos beherrscht ihr Leben; Chaos in Karriere, Finanzen und Liebesleben. Die On/Off Beziehung mit ihrem psychisch labilen Freund Harry (Hugh Skinner) ist nicht selten ein praktischer Notanker, sei es zur finanziellen Absicherung oder als psychologischer Selbstbetrug. Auch die zahlreichen Affären und Kurzbeziehungen sorgen kaum für Linderung, darunter ein sehr (sehr, sehr, laut Olivia Colman) attraktiver junger Mann und ein Kerl mit auffällig großen Schneidezähnen. Die eigene Familie empfindet Fleabag nicht selten als notweniges Übel, als Spielbrett, um ihren Sarkasmus und ihren schäbigen Humor auszuleben, um für einen kurzen Moment wenigstens irgendetwas zu empfinden. Die Beziehung zum verwitweten Vater (Bill Paterson) war ohnehin schon schwierig, steht durch die neue Frau an seiner Seite unter einem noch schlechteren Stern. Denn die neue Stiefmutter (Olivia Colman) ist eine extravagante Künstlerin, die bald schon einen unterschwelligen Kleinkrieg gegen Fleabag führt. Oder Fleabag führt den Kleinkrieg gegen sie; beide nehmen sich nicht besonders viel. Schließlich die augenscheinlich erfolgreichere, aber mental und emotional verklemmte Schwester Claire (Sian Clifford) und deren „creepy“ Ehemann. Claires Psychosen zeugen von der schwerwiegenden emotionalen Vernarbung innerhalb der Familie, offenbaren aber auch, dass Fleabag ein besonderer Härtefall ist.

Von ganz zentraler Bedeutung aber Boo, beste Freundin und Geschäftspartnerin, mit der Fleabag gemeinsam ein Café mit nur halb durchdachtem Meerschweinchen-Motto führt. Doch Boo ist tot und damit klafft ein gewaltiges Loch in Fleabag, welches sie mit Sarkasmus, verbaler Gewalt und viel Sex zu füllen versucht. Nichts hat für sie Bedeutung und was für andere Menschen Bedeutung hat, wird von ihr mit Spott und selbstgefälliger Wonne eingerissen. Spätestens das S1-Finale veranschaulicht den komplexen und schwierigen Weg, den Waller-Bridges Script und Performance beschreiten. Lachen, Spotten und noch größeres Lachen, bis selbiges im Halse stecken bleibt. Eine zweite Staffel war nach diesem Finale nicht wirklich geplant, erforderte eine zielgerichtete und bedeutsame Weiterführung der Idee. Und Waller-Bridge war fündig geworden.

Staffel 2 ist – so seltsam das im ersten Moment klingen mag – ein Fall wie die „Paddington“ Filme. Teil 1 war überdurchschnittlich gut und rund und sehenswert. Dann kam Teil 2 daher und ist noch um einige Klasse besser. „Fleabag“ Staffel 2 rundet diese Geschichte zum TV-Meisterwerk ab, welches es ist. Fleabag ist gefangen in einem sich selbst aushebelnden mentalen Kreislauf, in einer nihilistischen Weltsicht in der nichts Bedeutung hat, auch die eigene Existenz nicht. Konsequenterweise beherrschen diese zweite Staffel nun der Kontakt und die vorsichtig aufkeimende Freundschaft zu einem Priester (Andrew Scott). Fleabag, die nihilistische Atheistin mit dem frechen Mundwerk, und der junge Priester, der seinen jetzigen Lebensweg ernst nimmt, der aber nicht immer ein Mann Gottes war. Die sechs Episoden der zweiten Staffel erhöhen Witz, Drama und psychologische Tragweite noch einmal. Man droht gelegentlich Schleudertrauma zu bekommen, so sehr geht es emotional Hin und Her, wird ein großer schmutziger Lacher zu einer schmerzhaften emotionalen Offenbarung verdreht. Mal ganz davon ab, dass Waller-Bridges verbale Präsentation, die so genannte Line Delivery, sensationell gut und witzig ist. Es mag auf den ersten Blick nicht so klingen, aber „You shat – in a sink“ (S1) ist ein Satz, den man sich glatt aufs T-Shirt drucken möchte. Oder so. Doch Phoebe Waller-Bridge beweist auch große Meisterschaft im Umgang mit den erzählerischen Tricks und Spleens ihrer Geschichte. So hat diese Serie in ihrer zweiten Hälfte ein paar Wendungen und Offenbarung parat, die mehr als einmal ein großes „Wow“ entlocken und das gesamte Konstrukt auf cleverste Art und Weise auf den Kopf stellen, bis hin zur gigantischen und unfassbar bewegenden Schlussszene, die so perfekt ist, dass jeglicher Wunsch nach einer dritten Staffel vernünftigerweise schnell begraben wird.

Fazit:
Schreiend komisch, tragisch-bitter und clever erzählt. Wer einen Zugang zur Hauptfigur und zum ungewöhnlichen Erzählstil finden kann, erhält eine der besten Serien der 2010er.

9,5/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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