© Netflix, China Film Group
Das ist die Große Story. Die „kleine“ Story ist erwartungsgemäß eine Familiengeschichte. Liu Peiqiang (Wu Jing) ist Wissenschaftler und startet seine Mission auf der Helios, der internationalen Raumstation, die der Erde vorausfliegt und diese koordiniert. Liu hinterlässt seinen vierjährigen Sohn bei seinem eigenen Vater, in Zukunft nur „Opa“ genannt. Die Mutter ist todkrank und kurz darauf taucht ein Mädchen/eine Schwester namens Doudou auf (Eine Erklärung wird mit 1A Timing, hahaha, vom Film nachgereicht.), die die Familie vergrößert. 15 Jahre später setzt die Handlung ein. Und als wäre das noch nicht dramatisch bzw. passend genug, ist es für Liu Peiqiang natürlich der letzte Tag auf der Station und auf der Erde ist gerade Chinesisches Neujahr. Passend. Doch dann, tja, entfaltet der große Jupiter seine ganze Anziehungskraft.
Mit dem abgeschlossenen Projekt zur Konzeption, Bewilligung und Umsetzung der Triebwerke überspringt die Geschichte schon einmal direkt Stoff genug für ein knappes Dutzend eigene Katastrophenfilme. Von dieser seltsamen neuen Welt bekommen wir nur das Gröbste mit. Der nun 19-jährige Sohn, Qi, entwischt mit Schwester Doudou aus den unterirdischen Wohnbereichen, wo sich der Großteil der Weltbevölkerung aufhält, und will ihr auf der bitterkalten Oberfläche etwas zeigen. In der frostigen Außenwelt gibt es dennoch ein reges Treiben, denn es wird hart gearbeitet. Da wir uns nicht weit in der Zukunft befinden, sieht vieles noch recht vertraut aus, immer nur leicht verändert. Wenn die gewaltigen Lastwagen und Bagger schon nicht nach Zukunft aussehen, müssen sie irgendwelche Spielereien besitzen. So wird aus einem so intuitiven und universell logischen Ding wie dem Lenkrad plötzlich eine sonderbare Kugel. Warum auch immer. Bald schon kommt Opa hinzu, der geplante Ausflug wird unterbrochen und dann geht’s rund, wenn durch Jupiter die Kontinentalplatten zu tanzen beginnen und ständig irgendetwas abstürzt, einstürzt, zerscheppert und außer Kontrolle gerät. „Und“, nicht „oder“.
Was folgt, sind massive Zerstörung, physikalische Absurdität und zahlreiche Heldentode – ganz, wie es die Amerikaner vorgemacht haben. Zweifellos groß und spektakulär, aber oftmals unbeteiligt serviert. Das menschliche Drama kommt mit höherer Intensität daher, was niemanden überraschend dürfte, der zumindest minimal Vertraut ist mit dem populären Kino Chinas. (Oder Asiens.) Der mögliche Herzschmerz und der Tränendruck werden noch mit privaten Offenbarungen und Flashbacks verstärkt, die teils wirklich in allerletzter Sekunde in den Plot geschmissen werden, als wären sie Zünder für planetare Triebwerke. Der Besuch einer vollvereisten Großstadt erinnert vermutlich nicht nur zufällig an „The Day after Tomorrow“. Dabei stellt sich die Frage, ob chinesische Wolkenkratzer, in diesem Fall in Shanghai, für deutsche und europäische Zuschauer so vertraut sind wie die Wahrzeichen New Yorks. Vermutlich (noch) nicht. Einigermaßen wirkungsvoll ist der Anblick aber dennoch. Und was macht eigentlich in der Zwischenzeit Dad auf der Raumstation? Der legt sich doch tatsächlich mit der dortigen KI an, um seine Familie auf der Erde zu erreichen und zu unterstützen, denn nicht einmal verrücktestes Sci-Fi Emo-tainment kommt ohne „2001“ Referenzen aus.
© Netflix, China Film Group
Ginge es nur nach der Effektqualität, könnte auch dieser Film nichts am amerikanischen Monopol aufs effektreiche Unterhaltungskino ändern. So gewaltig das alles ist, so künstlich sieht es auch oft aus. Nicht „schlecht gemacht“ künstlich, schlicht zu viel für einen Film, der kaum die Hälfte von dem kostet, was amerikanische Genre-Standards verschlingen. Vielleicht hätte man sich im Script auch gut und gerne eine (oder gar zwei) der zahlreichen Ein- und Absturzsequenzen sparen können. Aber das wäre natürlich langweiliger gewesen. Und wirklich langweilig ist „The Wandering Earth“ nicht, jedenfalls nicht so richtig, obwohl echte Überraschungen relativ rar gesät sind. Und das ist fast bedauerlicher. Im Versuch, eine Alternative zum amerikanischen Blockbusterkino darstellen zu wollen, ist man diesem vielfach zu ähnlich geworden. Klar ist aber auch: Das amerikanische Kino hat schon Schlimmeres abgeliefert und das chinesische Kino kann zweifellos noch besser werden.
Wie so oft, wenn man eine vertraute Geschichte nun mit einer fremden Stimme oder aus einer neuen Perspektive hört, wenn klassische Abenteuer von ungewohnten Gesichtern durchgespielt werden, entscheidet dieses erste eine Mal der Abweichung nicht über Grundsätzlichkeiten dieser „fremder“ Stimmen, neuen Perspektiven und ungewohnten Gesichter. „The Wandering Earth“ muss nicht besser sein als „Independence Day“ oder „Interstellar“, um seine Existenz zu legitimieren. Sehen Chinas nächsten 25 Blockbuster ähnlich aus, darf man sich Gedanken machen. Bis dahin gilt festzuhalten, dass auch China Sci-Fi Bombastspektakel kann, mit teils neuen Ideen und teils ähnlichen Schwächen.
Fazit: Mit Vollgas ins physikalische Sci-Fi Niemandsland. Als großspuriges Effektkino aus China wirkt „Die wandernde Erde“ frischer, als er eigentlich ist. So gibt es letztendlich nicht so wahnsinnig viel, was diesen Film von der einschlägigen amerikanischen Katastrophenfilmkonkurrenz unterscheidet. Das kann man sowohl positiv als auch negativ sehen.
4,5/10
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