Treasure Tuesday Spezialkritik: „eXistenZ“ (1999)

21. Juli 2020, Christian Westhus

Ist es noch Realität oder schon das Spiel? Und warum hat Jude Law eine Knochenpistole? Entscheidende Frage in unserem heutigen Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht. Heute: David Cronenbergs „eXistenZ“ (1999).

© Dimension Films, Turbine Medien

eXistenZ
(Kanada, UK, Frankreich 1999)
Regie: David Cronenberg
Darsteller: Jude Law, Jennifer Jason Leigh, Ian Holm, Willem Dafoe u.a.

Was ist das für ein Film?
David Cronenberg macht Cyberspace und Virtual Reality. Oder so ähnlich. Der eigentümliche Kanadier Cronenberg ist im Laufe seiner großartiger Karriere zu einem eigenen Begriff geworden, wahlweise Adjektiv (cronenberg’esk/cronenbergian) oder Verb (etwas cronenbergen – Hallo, Rick und Morty Fans). Der Wirkungsgrad des Mannes hinter „Die Fliege“, „Videodrome“ und „Crash“ ging schon immer über den oft etwas oberflächlich gefassten Begriff „Body Horror“ hinaus. Doch „eXistenZ“ – nur richtig in dieser Schreibweise – war zum Ausklang des 20. Jahrhunderts der letzte Film, der sich für den Teilzeit-Horror-Nerd wie klassischer Cronenberg anfühlte, bevor das Existentialistisch-Psychologische in Filmen wie „Eastern Promises“ und „A Dangerous Method“ Vorrang erhielt.

In einer vagen Zukunftsvision ist Virtual Reality Spieledesignerin Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh) ein Star und Ted Pikul (Jude Law) nur ein scheuer Niemand, der nicht einmal einen Bio-Port im Rücken hat, mit dem man über eine kybernetische „Konsole“ Zugang zur Spielewelt erhält. Bei der Vorführung von Gellers neuestem Werk kommt es zu einem Anschlag durch Cyber-Terroristen. Mit Ted an ihrer Seite flüchtet Geller, muss untertauchen und muss kontrollieren, ob die biomechanischen Feinheiten ihrer Kreation Schaden genommen haben. Also müssen sich Allegra und Ted in „eXistenZ“ hineinbegeben. Und schneller als man sagen kann „Ich bin ja schon drin; das ist ja einfach“, stellt sich die Frage, wo das Spiel anfängt und die Realität aufhört.

© Dimension Films, Turbine Medien

Warum sollte mich das interessieren?
Dieser Status, Namensgeber für eine spezielle Art des Filmemachens zu sein, wird nicht vielen Regisseuren zuteil. Cronenbergs eigentlich durchweg spannendes Werk kann stilistisch in mindestens zwei Phasen aufgeteilt werden und müsste dabei eigentlich auch zeitlich mindestens zweigeteilt werden. Wie erwähnt war „eXistenZ“ (1999) das gefühlte Ende einer solchen Phase. Womöglich sieht David Cronenberg selbst das anders, doch die wenigsten Filmemacher blicken mit der Nerd-Energie eines Quentin Tarantino auf ihr eigenes Schaffen. In seiner auch heute noch cool-unterhaltsamen und verschwurbelt-ungewöhnlichen Art, die aus heutiger Sicht Vergleiche mit „Black Mirror“ und eben auch „Rick & Morty“ zulassen, ist dieser Film ein idealer Einstieg. „Die Fliege“ (1986) mag das unbestreitbare Über-Meisterwerk sein, „Die Brut“ (1979) der unterschätzte Klassiker und „Die Unzertrenntlichen“ (1988) bzw. „Crash“ (1996) die cineastischen Großtaten abseits der markanten Horroreinflüsse. Doch für den heutigen Zuschauer scheint „eXistenZ“ mit seiner Lebhaftigkeit und seinem verspielten Ekelgrat das ideale Fundament. Auch gerade weil die hier präsentierten Vorstellungen von Games und Cyberwelten im Jahr 2020 anders wirken als noch 1999.

Man könnte abschätzig formulieren, dieser Film übertrage nur Ideen aus „Videodrome“ (1983) und der dort porträtierten VHS- und TV-Welt in die Dimension von Videospielen und der digitalen Welt. Doch damit wird man keinem der beiden Filme wirklich gerecht. „eXistenZ“ kommt mit einer sicht- und spürbaren Freude daher, den Zuschauer auf eine Reise zu schicken, ihn zu locken, zu täuschen, ihn zu stimulieren und abzustoßen. Das Hin und Her zwischen den Welten, gespickt mit kuriosen Figuren wie Willem Dafoes schmutzigem Bio-Port Mechaniker oder der Spielefigur D’Arcy Nader, macht Spaß, wie nur wenig in Cronenbergs zumeist finster-deprimierenden Filmen Spaß macht. Die bis heute berühmte Sequenz in einem Restaurant, wenn Ted und Allegra auf ungewöhnliche Art an eine Schusswaffe geraten, wirkt, als spiele der Regisseur mit den Legosteinen seiner über Jahre hinweg kreierten Cronenberg-Welt. Und doch ist das Spiel mit Realitätsebenen, terroristischen Motiven, Fantasy-Tech und der Frage, wie dehn- und veränderbar Identität (oder sollte man sagen: Existenz) durch den Einfluss digitaler Stimulanzen wirklich ist, nicht einfach nur Dekoration. Einige Kernthemen und Ideen, die sich durchs komplette Werk des Kanadiers ziehen, manifestieren sich eben auch in einem seiner populärsten und unterhaltsamsten Filme. Und gerade deshalb ist „eXistenZ“ ein guter Startpunkt, um sich eingehender mit einem der spannendsten Regisseure der letzten 50 Jahre zu befassen.

„eXistenZ“ ist zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung bei Amazon Prime im Abo guckbar, auf allen bekannten Plattformen leih- und kaufbar, sowie auf DVD und BD erhältlich.

Du willst noch mehr spezielle Geheimtipps und Filmempfehlungen? Die gesammelten Treasure Tuesday und ältere Treasure Monday Rezensionen gibt es hier!

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

Um an dieser Diskussion teilzunehmen, registriere dich bitte im Forum:
Zur Registrierung