BG TV-Kritik: „Spuk in Hill House“
Netflix adaptiert die Buchvorlage zu „Bis das Blut gefriert“ und „Das Geisterschloss“ als modernisierte Horrorserie. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Für einen Sommer bewohnte Familie Crain mit Vater Hugh (Henry Thomas) und Mutter Olivia (Carla Gugino) das alte und sanierungsbedürftige Anwesen namens Hill House. Einige Jahre und tragische Umstände später, versuchen die Crain Kinder auf unterschiedliche Art und Weise mit ihren Erfahrungen umzugehen. Sie sind noch nicht mit Hill House fertig – und das Haus offenbar noch nicht mit ihnen.
Spuk in Hill House
(Originaltitel: The Haunting of Hill House | USA 2018)
Entwickler: Mike Flanagan
Darsteller: Michiel Huisman, Carla Gugino, Henry Thomas, Kate Siegel, Elizabeth Reaser, uvm.
Sender: Netflix
Diese Kritik erschien zur Erstausstrahlung der Serie im Oktober 2018
Literaturadaptionen für Film und Fernsehen sind eine schwierige Sache. Die Medien funktionieren grundlegend unterschiedlich, besitzen abweichende Vorzüge und Einschränkungen. Häufig wirft man das Argument der Zeit bzw. der Länge ein; ein Roman kann sich auf Hunderten von Seiten, in mehreren Stunden Leseaufwand entwickeln, während ein Film selten grundlegend länger als zwei Stunden sein darf. Demnach konnte die Neuverfilmung von Stephen Kings „ES“, auch wenn es nur Teil 1 von 2 ist, gar nicht viel mehr sein als eine vage Annäherung und Zuspitzung. Mike Flanagan und sein Autorenteam haben mit den rund zehn Serienstunden auf ebenso vielen Episoden wesentlich mehr Zeit und Raum, den im Vergleich zu „Es“ um ein Vielfaches kürzeren Roman von Shirley Jackson umzusetzen. Doch das Team von „Spuk in Hill House“ hat noch einen anderen entscheidenden Vorteil: es gibt bereits eine äußerst gelungene Filmadaption der Romanvorlage. „The Haunting“, in Deutschland als „Bis das Blut gefriert“ bekannt, kam 1963 unter der Regie von Robert Wise der Handlung und den Grundthemen des Romans angemessen nahe und ist auch für sich genommen ein meisterhaftes – und noch heute sehenswertes – Gruseldrama.
Für Flanagan gilt nicht länger die häufig geforderte Respektsbringschuld einer Erstverfilmung. Auch braucht er nicht einen misslungenen ersten Versuch korrigieren, wie es mehr oder weniger bei „Es“ der Fall war, denn an das „The Haunting“ Remake (1999) von Jan de Bont erinnert sich verdientermaßen fast niemand mehr. Daher darf die Netflix-Version von „Hill House“ das tun, was eine mutige und lohnenswerte Adaption eigentlich immer tun sollte: aus der Vorlage die gröbsten Grundelemente aus Figuren, Handlung und Themen übernehmen und sie komplett eigenständig weiterentwickeln. Mit dem eigentlichen Roman hat diese Serie streng genommen nicht mehr viel zu tun, doch wenn man sich vom bloßen Plot löst, ist zu erkennen, wie spannend eine Adaption sein kann, welchen Mehrwert eine Neuverfilmung haben kann, wenn sie nicht länger bloß von einem Medium ins nächste übersetzen muss.
Eine vollständige Familie Crain hat es im Roman nur im Hintergrund gegeben. Hugh Crain war der mächtige Patriarch, der vielleicht (vielleicht auch nicht) über seinen Tod hinaus als finstere Entität auf und durch Hill House wirkte. Nun läuft ausgerechnet der sympathische Henry Thomas (Elliott aus „E.T.“) mit diesem Namen herum, noch dazu als sensibler und liebenswerter Familienvater. Die fünf Crain Kinder sind eine Erfindung der Serie und auch der Kern dieser. Erzählt auf zwei Zeitebenen, der damalige Sommer in Hill House und etwa 25 Jahre später, ist „Spuk in Hill House“ nur gelegentlich ein richtiger Spuk und eigentlich ein intensives und erstklassig konstruiertes Familiendrama.
Die ersten Episoden stellen uns die Kinder nacheinander vor: Steven (Michiel Huisman & Paxton Singleton) ist der Älteste und hat seine Erinnerungen an Hill House in einem Buch aufgearbeitet, hat, so die Meinung einiger seiner Geschwister, das Leid der Familie ausgeschlachtet und verkauft. Steven glaubt nicht an Geister; das ist seine Masche. Er sucht nach Leuten, nach angeblich paranormalen Begebenheiten und deckt eine realistische – ergo wahrheitsgemäße – Erklärung aus Zufällen und Psychosen auf. Shirley (Elizabeth Reaser & Lulu Wilson) ist heute Bestatterin und kümmert sich persönlich um die damit verbundene Leichenpräparation. Theodora (Kate Siegel & Mckenna Grace) trägt einen Namen aus dem Roman und wurde auch sonst hier und da von der Vorlage geprägt. Zuletzt die Zwillinge Luke (Oliver Jackson-Cohen & Julian Hilliard) und Nell (Victoria Pedretti & Violet McGraw), die eine besondere Verbindung miteinander haben. Nell ist, abgesehen vom Hausmeisterpaar von Hill House, die direkteste Adaptionsfigur, nicht jedoch die Hauptfigur.
Die erste Serienhälfte gibt klar zu verstehen, dass Familie Crain und insbesondere die fünf Kinder gleichwertig im Vordergrund stehen. Nach den Erlebnissen und dem tragischen Ende der Kindheit in Hill House lässt sie ein neuerliches Unglück die Vergangenheit reflektieren. Doch wer zuerst kommt, kann den Zuschauer besonders prägen. So wirkt Steve mit seiner das Übernatürliche ablehnenden Haltung zunächst wie die Person, an die wir uns halten können und sollen. Dabei ist „Spuk in Hill House“ relativ früh relativ unzweifelhaft darin, dass etwas mit und in Hill House nicht stimmt, dass eine nicht erklärbare Macht von dem prachtvollen Bau ausgeht. Der Roman lässt bis zuletzt die Möglichkeit zu, sämtliche Impressionen könnten der unruhigen Psyche von Eleanor geschuldet sein, doch Mike Flanagan geht hier anders vor. Der Regisseur von „Oculus“, dem überraschend gelungenen „Ouija“ Prequel „Origin of Evil“ und der King Verfilmung „Das Spiel“ versteht sein Metier und liebt das Genre. Wenn denn mal die Türen knarren, es in der Wand poltert, ein edel gestalteter Türknauf von Geisterhand gedreht wird oder ein Schatten um die Ecke huscht, hat es meistens in sich. Das Haus selbst ist ein wunderbar entworfenes Stück Architektur. Es besitzt, was auch dem Budget geschuldet ist, nicht den opernhaften Bombast aus beispielsweise „Crimson Peak“, doch Zimmer, Flure und geheime Keller in Hill House sehen klasse aus und sind noch besser eingefangen.
Obwohl eine spätere Folge den vielleicht besten (oder zumindest effektivsten) Jump Scare der letzten Jahre bereithält, ist Flanagans Horror zumeist subtil und hintergründig. Statt Statuen und Ornamente des Hauses komplett lebendig werden zu lassen, wie es das 1999er Filmremake tat, kann man sich oftmals nicht sicher sein, was man gerade gesehen hat. Hatte die Statue nicht eben noch in die andere Richtung geblickt? Steht dort jemand im Hintergrund? Der Regisseur, der sämtliche Episoden drehte, gibt seiner Kamera den notwendigen Raum, hat immense Geduld beim Schnitt und serviert hin und wieder Kamerafahrten und mehrminütige Plansequenzen, die allein logistisch schon beeindruckend sind und dann auch noch inhaltlich punkten. Doch die Macht in Hill House wirkt insbesondere dadurch, dass sie klar und nützlich mit den Figuren verbunden ist. Das persönliche Drama motiviert und beeinflusst den Horror. Obwohl wir ja wissen, dass alle fünf Kinder die Zeit im Haus überleben, sind auch die Szenen aus der Vergangenheit oft wahnsinnig effektiv. Wir bangen nicht ums Überleben der Kinder, sondern um ihre Seele, um ihre psychologische Unversehrtheit. Jeder Schrecken, jeder Panikzustand, jedes unerklärliche Vorkommnis und jede Ahnung des Todes hinterlässt Narben, die wir in den erwachsenen Versionen wiederfinden. So sind die vielen gelungenen visuellen Szenenübergänge, wenn wir zwischen den Zeitlinien wechseln, nicht einfach nur stilistische Spielerei, sondern ein Hinweis darauf, dass sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig bedingen; in beide Richtungen.
„Spuk in Hill House“ erforscht menschliches Trauma. Erfahrenes Leid und fehlende Antworten wirken sich auf diese Seelen aus. Das Script hält dabei nicht zurück und einige angemessen unangenehme Passagen bereit, lässt uns an Depression, Suizid und zerstörerischem Drogenkonsum teilhaben, zwingt uns, Streitgespräche zu verfolgen, die Intimstes offenlegen und mitunter tief verletzen. Doch die Serie ergötzt sich nicht daran oder will schlicht deprimieren. Im Laufe der Handlung setzt ein Verständnisprozess ein, eine Reflektion und mögliche Erkenntnis, wie diesen Einflüssen zu begegnen ist. Das trifft auch auf den Zuschauer zu. Der wohl gelungenste Kniff in Regie und Drehbuch ist die Doppelung mancher Szenen aus verschiedenen Perspektiven. Man präsentiert eine augenscheinlich klare Situation, zwingt uns zu einer vorschnellen Erstreaktion und kehrt dann in der nächsten oder übernächsten Episode mit zusätzlichen Informationen und neuem Blickwinkel zu diesem Moment zurück. Unsere Vorurteilsreaktion entlarvt, ein neues Verständnis und Mitgefühl generiert. Derartige Momente gibt es mehrfach und sie machen einen großen Reiz dieser Serie aus.
Für eine Serie haben wir es mit relativ wenigen Figuren zu tun, doch da die meisten von ihnen doppelt auftreten, sind die zentralen Figuren umso wichtiger. Das Casting ist sensationell. Nicht nur sehen sich Kinder und Erwachsene glaubwürdig ähnlich, die Darsteller sind auf beiden Ebenen ausgesprochen gut und geben dem emotionalen Aufwand ein Gesicht. Nell und Theodora, zwei Figuren mit stärkerer Verbindung zum Buch, fallen besonders auf, nicht zuletzt da sie entweder besonders deutlich mit Hill House in Kontakt stehen oder gewisse Fähigkeiten besitzen. Dabei darf die Sexualität einer Figur, die Romanautorin Jackson damals noch aus Angst vor der Zensur unerwähnt ließ, in einer modernen Serie nun offen und selbstverständlich ausgespielt werden. Das Schauspielhighlight liefert aber vielleicht Carla Gugino als Mutter Olivia, die ihren schleichenden Wahnsinn und den Wandel von einer herzensguten und liebevollen Mutter hin zu einem verwirrten Angstwrack großartig verkörpert. Da bleibt bei all dem am Ende nur zu hoffen, dass Mike Flanagan, Netflix und Konsorten so klug bleiben, wie sie bisher waren, und der Geschichte ihren verdienten und würdigen Abschluss lassen. „Hill House“ braucht keine Fortsetzungen, keine weitere Staffel. Gruselige Familiendramen in alten Gemäuern kann man auch anderswo erzählen.
Fazit:
Mehr Familiendrama als Grusel, als solches aber erstklassig. Und wenn es dann zum Nägelkauen und Bibbern übergeht, ist „Spuk in Hill House“ dennoch äußerst gelungen.
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