Treasure Tuesday Spezialkritik: Akira (1988)

21. Januar 2020, Christian Westhus

Beim Treasure Tuesday stellen wir filmische Schätze vor, eben „treasures“. Filme, die vergessen wurden, nie den ganz großen Durchbruch hatten, zu alt oder zu fremdsprachig sind, um im vielfältigen Angebot unserer Tage herauszuragen. Auch zu Großvaters Zeiten gab es schon sehenswerte Filme, wie es auch in anderen Ländern sehenswerte Filme gibt. Heute werfen wir einen Blick auf einen der größten Anime Klassiker aller Zeiten: Akira.

Akira Committee Company Ltd. & Universum Film

Akira (アキラ) (Japan, 1988)
R: Katsuhiro Ôtomo (basierend auf seinem eigenen Manga)

Was ist das für ein Film?
Einer der größten Klassiker der Anime Geschichte. „Akira“ wirft uns ins Neo-Tokio des Jahres 2019, welches 30 Jahre nach einer atomaren Katastrophe und dem nicht zuletzt dadurch ausgelösten 3. Weltkrieg inzwischen zu einer gigantischen futuristischen Metropole geworden ist. Während in den politischen Hinterzimmern Machtkämpfe und Intrigen ausgetragen werden, sind die Straßen des niederen Neo-Tokio von jugendlichen Motorradgangs umkämpft. Eine solche Gang führt der junge Kaneda an, der mit seinem aufgemotzten roten Motorrad der selbsternannte Star auf Neo-Tokios Straßen ist. In seinem Schatten steht Kollege Tetsuo, der zunächst ehrfürchtig zu Kaneda aufblickt, ehe er eine folgenschwere Begegnung mit einem seltsamen Kind hat. Dieses Kind wird mit gewaltigem Aufwand von einer geheimen Regierungsbehörde und mit Unterstützung des Militärs gejagt. Und auch Tetsuo gerät in die Gewalt der Behörde, als sich herausstellt, dass sich sein Körper nach der Begegnung verändert, dass eine sonderbare Macht in ihm ausgebrochen ist.

Regisseur Katsuhiro Ôtomo adaptierte hier seinen eigenen Manga, der zum Zeitpunkt der Entstehung des Films noch nicht abgeschlossen war. Dadurch – und bei einem Manga mit einem derartigen Umfang wie „Akira“ – kann die Filmadaption folgerichtig nur ein Destillat seiner Vorlage sein. Wer den Comicursprung kennt, wird einige Sachen vermissen, sich an Veränderungen stoßen. Wer nicht damit vertraut ist, wird womöglich über die komplex verschachtelte Handlung mit seinem übergroßen Personal stolpern. Und dennoch ist „Akira“ für beide Seiten ein einzigartiger Genuss. Ôtomos Script verschiebt den Kern seiner Geschichte nicht komplett auf Tetsuo und Kaneda, auf diese Freundschaft, in der brandgefährliche Rivalität liegt. Auch der Film nimmt sich Facetten der politischen und sozialen Unruhen in Neo-Tokio an, zeigt die Behörde, die drei „Kinder“, das Militär, Rebellengruppen im Untergrund und einen Putschversuch. Doch der Fokus der Geschichte liegt bei Kaneda und mehr noch bei Tetsuo, was sich wie die richtige Entscheidung anfühlt. Wir bekommen am Rande gerade genug Informationen und Facetten geliefert, um eine lebendige Vorstellung von den vielschichtigen Vorgängen in Neo-Tokio zu haben, um einen komplexen Hintergrund zu haben, vor dem sich eine spannende und komplexe Charaktergeschichte abspielt.

Tetsuos Werdegang vom Underdog, zum Protagonisten und hin zum vermeintlichen Antagonisten, als die neue Macht in ihm unkontrollierbar scheint, ist enorm faszinierend und voller Überraschungen, nicht zuletzt da die Geschichte immer tiefer in Fantasy-lastige und teils groteske Sci-Fi abdriftet. So hat all dies auch Ähnlichkeiten mit einer Superheldengeschichte, mit Anleihen an X-Men und natürlich Superman. Doch es ist die Beziehung zwischen den jugendlichen Freunden bzw. es ist Tetsuos Selbstfindung, die in teils atemberaubend bildstarken Momenten dargestellt wird und neben der Bildgewalt auch emotionales Gewicht hat.

Akira Committee Company Ltd. & Universum Film

Warum sollte mich das interessieren?
Bevor Netflix ab Februar beginnt, nahezu den kompletten Studio Ghibli Katalog einem fressgierigen Anime-Publikum vorzuwerfen, lohnt es sich, einen der größten Klassiker genauer zu betrachten, den der Streaming Riese noch immer im Angebot hat. „Akira“ gilt gemeinhin als der Anime, der japanische Animation auch im so genannten Westen einer größeren Zuschauergruppe bekanntmachte. „Akiras“ Veröffentlichung markiert das Jahr Null für den Anime Boom der 1990er und damit für eine ganze Generation von Fans. Die Gründe dafür sind vielfältig, hängen sicherlich auch mit einem guten wirtschaftlichen „Timing“ in Japan und in einem guten kulturellen Genre-Timing in den USA zusammen. Doch ein maßgeblicher Aspekt für die bis heute ungebrochene Relevanz des Films ist die Animationstechnik.

„Akira“ ist in seinen Einzelbildern ohnehin schon überaus detailreich und lebendig, doch darüber hinaus ist ständig irgendetwas in Bewegung. Längere Szenen, in denen der Bildausschnitt als quasi-Kamera über ein starres Einzelbild fliegt, um einen Schwenk oder eine Bewegung zu suggerieren, wie es nicht selten gemacht wird, gibt es hier nahezu gar nicht. Einzelne Frames zu wiederholen, um eine längere Bewegung zu suggerieren – auch so etwas gibt es hier nicht. Nahezu jedes Bild ist ein Original. Stattdessen haben wir hyperdynamische Bewegungen, ausgefeilte Parallaxeneffekte und Detailanimationen, die den Atem stocken lassen. Was wir hier an irrsinnig lebendigen Bewegungen aus Fahrzeugen, Wind, Stoff und Zerstörungen bewundern dürfen, ist kaum in Worte zu fassen, von der Lichtanimation ganz zu schweigen. Und all dieser gigantomanische technische Aufwand für einen überdurchschnittlich langen Film von 124 Minuten und überwiegend in 24 Bildern pro Sekunde, was bei handgezeichneter Animation – insbesondere in Japan – nicht unbedingt der Standard ist. 24 Zellenanimationsbilder pro Sekunde. In 1988, als Computertechnologie nur minimalste Extras ersetzen oder bei der Berechnung von Bewegungen helfen konnten. Gerade weil man diese technischen Dimensionen irgendwie spürt, weil man merkt, was für gigantische Kräfte am Werk sind, fühlt sich „Akira“ in seiner visuellen Gewalt größer an als die meisten modernen Blockbuster. Und in seiner Kombination aus Detailgewalt, Lebendigkeit und Fluidität ist „Akira“ möglicherweise der technologische „König“ aller handgezeichneten Animationsfilme, egal ob Ost oder West.

Doch „Akira“ ist keineswegs ein reines Technik Show-Reel. Sicherlich nicht. Ideen einer aus den Fugen geratenen Zukunft, der Verwahrlosung der Jugend und der Straße, sowie atomare Zerstörung als historischer Hintergrund und Ahnung einer Zukunft sind stilbildend. Die Welt von Neo-Tokio 2019 und seinen Bewohnern, das Schicksal Tetsuos und die komplizierte Beziehung zu Kaneda; all das macht die Bildgewalt und technische Maßlosigkeit des Films erst so richtig sehenswert. Als einflussreicher Grundstein für Kino-Cyberpunk in den 1980er Jahren steht „Akira“ Schulter an Schulter mit „Blade Runner“ und „Ghost in the Shell“.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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