Treasure Tuesday Spezialkritik: Girl Walk // All Day

2. Juni 2020, Christian Westhus

Hey du (Wer, ich?) Ja, du. Möchtest du coole Filme und Geheimtipps kennen lernen, mit denen du vor deinen Freunden angeben kannst? Zum Beispiel einen der ausgewählten Schätze, die wir wöchentlich beim Treasure Tuesday vorstellen. Vergessene Filme, unterschätzte Filme, alte Filme, fremdsprachige Filme. Filme, die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht. Den heutigen Schatz könntest du jetzt sofort legal und kostenlos ohne Voranmeldung anschauen: das „epic“ Tanz-Musikvideo Girl Walk // All Day.

Wild Combination

Girl Walk // All Day
(USA 2011)
Regie: Jacob Krupnick
Darsteller: Anne Marsen, Dai Omiya, John Doyle

Was ist das für ein Film?

Ja, dieser Film tauchte in der Liste der besten Filme der Dekade auf, doch manche Tipps dürfen auch doppelt betont werden. Zu sagen, man solle Michael Jacksons „Thriller“ vergessen, ginge sicherlich zu weit. Doch „Girl Walk // All Day“ ist eine entwaffnend gut gelaunte und süchtig machende Alternative zum König der Musikvideos. In gewisser Weise ist GWAD nämlich nichts anderes als ein Musikvideo; ein Flashmob Musikvideo. Jacob Krupnicks über Kickstarter finanzierter Musik- und Tanzfilm bewegt sich nahezu ohne Pause und ohne Dialoge am Album „All Day“ des Mash-Up und Sampling DJs Gregg Michael Gillis alias Girl Talk entlang. Rund 75 Minuten, zwölf Tracks und demzufolge zwölf Kapitel, in denen die junge Frau alias The Girl (Anne Marsen) aus ihrem tristen Ballett-Alltag ausbricht, auf eine Fähre springt und tanzend den Big Apple erkundet.

Girl Talks Musik kombiniert ohnehin schon sehr tanzbaren Hip Hop und R’n’B mit Dance, Pop und Rock. Busta Rhymes, DMX, Gucci Mane und NWA treffen auf Arcade Fire, Peter Gabriel, Blondie und Nirvana. „Hit me“, verlangt Jay Z, gefolgt von einem Ludacris, der sich mit seinem wohl berühmtesten Lied Platz verschaffen will, während Ozzys Black Sabbath mit „War Pigs“ die grundlegenden Riffs beisteuert. The Girl hat sich den Tanzvirus eingefangen und will mit diesem die Welt erkunden. Wenn Beats und Farbe die klassische Schwarzweißwelt des Ballettunterrichts aufbrechen und The Girl in aggressiven Tanz-Gesten ein fesches „Bye-bye!“ an ihre Tanzlehrerin sendet – und ganz nebenbei eine erstklassige Sportjacke mitgehen lässt – fängt man an mit dem Kopf zu nicken und hört so schnell nicht wieder auf. Am liebsten würde man rund um den Fernseher, durch die Wohnung und um die halbe Welt tanzen, so schnell greift der Virus auf uns über.

Da Mash-Up Musik rechtlich quasi nicht bezahlbar ist, wird der Film wohl niemals „offiziell“ eine Auswertung über Kino, Scheiben, VOD oder TV-Ausstrahlungen erfahren. Von gelegentlichen Sonderaufführungen oder Festivalauftritten abgesehen, ist die Existenz des Films auf die legale und unentgeltliche Veröffentlichung über die offizielle Homepage und die Videoplattform Vimeo beschränkt. Regisseur Krupnick setzt da noch einen drauf und schmeißt seine Figuren auf die Straßen von New York City, wo die drei Hauptfiguren The Girl, The Gentleman und The Creep häufig ohne Genehmigung zwischen nicht eingeweihten Passanten herumtanzen, diese gelegentlich miteinbeziehen und zu ungeplanten Reaktionen zwingen. So tanzt The Girl schon bei der Überfahrt auf Leute zu, zettelt in der U-Bahn eine kleine Tanzparty an, tanzt bei einer Shopping-Tour durch Kaufhäuser und wird sogar aus einem Baseballstadion verwiesen, als sie über die Absperrmauer tanzt. Bei einer kleinen Spritztour durch die Stadt tanzt sie ungesichert auf einem Motorroller herum und mischt sich irgendwann vermeintlich ungefragt unter Tanzgruppen, die in der Öffentlichkeit proben.

Official Trailer: Girl Walk // All Day from Girl Walk // All Day on Vimeo.

Warum sollte mich das interessieren?

„Girl Walk // All Day“ ist nicht einfach nur eine beliebige Zusammenstellung halb improvisierter Tanz-Szenen zu einem Mash-Up Album. Eine Handlung gibt es auch. Sie ist von sekundärer Bedeutung, doch sie ist unweigerlich da. Dem Ausbruch aus der öden Ballett-Welt folgt die naiv-großäugige Erkundung von New York. Das Mädchen stößt durchaus mal an ihre Grenzen, bis sie dann auf die beiden männlichen Protagonisten trifft. Der Creep läuft nach einem Arbeitsunfall im Skelett-Overall herum, tanzt einen erstklassigen Roboter und ist zunächst gierig und unfreundlich, wenn er mit dem Girl Kontakt aufnimmt, die daher Abstand hält. Doch die erste Begegnung mit dem Gentleman ist ein überraschend intensiver Flirt, ehe unser Girl von ihrem eigenen Mut überrascht ist und zwei Schritte zurück macht. Musik und insbesondere Tanz will sie folglich weniger intim, dafür lockerer und unbeschwerter mit anderen Menschen teilen, am liebsten mit halb New York. Parallel geraten die beiden Jungs selbst in diverse Verwicklungen, werden bestohlen, müssen flüchten, geraten Tanztheater-mäßig kämpfend aneinander. Manche werden mit den Augen rollen, wenn der Creep mit T-Rex Armen (quasi) durch einen Park hüpft, weil er die Fährte des Girls gewittert hat. Doch es passt zur Grundhaltung des Films, und zum Glück macht sich Regisseur Krupnick keinerlei Sorgen um eventuelle Albernheiten. Denn irgendwie ist es schon jetzt unvermeidlich, dass sich diese drei Figuren noch einmal begegnen werden.

Der Film trägt das Herz am rechten Fleck und möchte mit Musik und Tanz die Welt zum Besseren verändern. Alles was Spaß macht ist erlaubt, und die Geheimwaffe zu besserer Stimmung und zum besseren Miteinander zwischen den Menschen ist Tanz. Das Mädchen flüchtet zwischenzeitlich vor dem aufdringlichen Creep, verzweifelt, weil niemand mit ihr tanzen will, doch sie hat die Saat des Tanzes in der Stadt eingepflanzt und bemerkt bald die Früchte dieser Pflanze, die sogar den Creep besänftigen. Dies ist keineswegs ein „Step Up“-artiges Show Reel unfassbarer Tanz Skills. Lasst uns zusammenkommen und tanzen, egal wie gut unsere technischen Veranlagungen sind, scheint der Film stattdessen zu sagen; miteinander zappeln und Spaß haben, statt schweigend an einander vorbei zu laufen. All dies kommuniziert insbesondere das Gesicht von Anne Marsen, die ein absoluter Glücksfall ist. Die Stadt New York City, mit ihren vielen Gesichtern und Menschen in allen Formen und Farben, ist der eigentliche Hauptdarsteller. Doch Marsens Blicke, ihr entwaffnendes Lachen, ihre herrlichen Albernheiten und ihr „Komm, tanz mit mir“ Flehen in den Augen machen die Sogwirkung noch intensiver.

Es ist ein Film, den man nur zu gut als audiovisuellen Begleiter auf einer Party nutzen könnte, bei dem man aber genauso gut auf der heimischen Couch mitwippen kann. Dieser Wunsch nach einem gemeinschaftlichen Miteinander, nach sozialer Nähe und auch der Anblick von New York – all dies besitzt in diesen Tagen eine ganz besondere Bedeutung und Dringlichkeit. Die vermittelte Freude und Sehnsucht des Films ist aktuell nur noch wichtiger und intensiver geworden. Am Ende ist das „All Day“ des Titels auch eine Aufforderung, der man nur zu leicht nachkommen könnte. Wenn Girl Talk am Ende die vielleicht eigenwilligste und effektivste Musikfusion („Imagine“) für den stimmungsvoll perfekten Abschied nimmt und Krupnick uns in wunderbaren Bildern zurück in unsere Welt schickt, möchte man am liebsten gleich wieder von vorne anfangen, dem Girl nach New York folgen, den Hintern bewegen, tanzen und Menschen näher kommen – den gesamten Tag lang. All day long.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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