BG Noirvember Kritik: „Frau ohne Gewissen“ alias „Double Indemnity“ (1944)

5. November 2020, Christian Westhus

Halloween kann jeder. Andere Monate können auch schöne Mottos besitzen. Über den November verteilt stellen wir euch einige der besten und spannendsten Werke des Film Noir vor. Die Schwarze Serie Hollywoods: Mörder und Betrüger, Femmes Fatales, dunkle Schatten und Zigarettenqualm. Den Anfang macht einer der größten Klassiker der Reihe überhaupt: Billy Wilders „Frau ohne Gewissen“ alias „Double Indemnity“ (1944).

Frau ohne Gewissen
(Originaltitel: Double Indemnity | USA 1944)
Regie: Billy Wilder
Darsteller: Fred MacMurray, Barbara Stanwyck, Edward G. Robinson u.a.
Kinostart Deutschland: 06. Juni 1950 (Westdeutschland)

Film Noir ist nicht bloß der Gangsterfilm des klassischen Hollywoods, nicht bloß Mord, Raub und Betrug, ist mehr als lange Schatten, Zigarettenqualm und Femmes Fatales. Film Noir entspricht auch einer Weltsicht oder zumindest einem vagen Verständnis der Welt als grausam ungeordneten Ort, in der Willkür und Ego des Menschen auf die Gnadenlosigkeit des Zufalls trifft. Wie so oft bei diesen Genre- und Stilbegriffen, vom Deutschen Expressionismus, über Giallo, bis hin zu Torture Porn oder Elevated Horror, sind diese Schlagworte nachträglich und von außen beigefügt. Man darf davon ausgehen, dass sich keiner der Macher der goldenen Noir Jahre von 1940 bis 1955 je hinstellte und durch dichten Zigarrenqualm verkündete, einen neuen Noir Film drehen, schreiben oder produzieren zu wollen. Es waren Krimis und Melodramen, verpackt in den Stilfarben der Saison: Nachtschwarz.

Die realweltlichen Umstände dieser Phase (die Nachwirkungen der Great Depression, der 2. Weltkrieg und die damit verbundenen Auswirkungen auf die amerikanische Bevölkerung, die amerikanische Familie und das Selbstverständnis des Landes) sind leicht zu erkennen und doch sollte man keine zu einfachen Schlüsse ziehen. Es ist eine so überraschende wie treffende Feststellung, dass einige der markantesten Noir Filme von europäischen und oftmals sogar deutschsprachigen Auswanderern und Exilanten gedreht wurden, von zum Beispiel Fritz Lang, Otto Preminger und eben Billy Wilder. Für Wilder war „Double Indemnity“ (Originaltitel) die erst dritte Regiearbeit in Hollywood und die vierte überhaupt. Es sollte der endgültige Startschuss für eine der größten Hollywoodkarrieren aller Zeiten werden und zu einem der definitiven Filme der Schwarzen Serie.

© Paramount / Universum Film (Leonine)

Der Stil des Film Noir war fraglos europäisch geprägt, zumindest europäisch inspiriert, doch die Geschichten waren amerikanischen Ursprungs. Amerikanische Autoren wie Raymond Chandler und Dashiell Hammett machten bereits in den 1930er Jahren die Hardboiled Detective Geschichten zu Pulp-Erfolgen. Ein weiterer großer Name dieser Literaturphase: James M. Cain, der neben „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ auch die Vorlage für eben dieses Film Noir Meisterwerk lieferte. Ironischerweise wurde aber Kollege Chandler hinzugezogen, um Wilders Drehbuch von „Frau ohne Gewissen“ aufzufrischen, um insbesondere den Dialogen einen „hardboiled“ Anstrich zu verpassen, ohne die Zensoren des Hays Office zu verärgern. („You’re rotten.“ – „I think you’re swell.“)

Aus heutiger Sicht ist das Set-Up ganz klassisch: erschöpft und gescheitert schleppt sich Versicherungsmakler Walter Neff (MacMurray) in sein Büro, um über das Diktiergerät Zeugnis seines Absturzes abzulegen. So führt er uns ein paar Wochen zurück, wenn er routinemäßig bei Mr. Dietrichson vorbeischaut, um dessen Police für die Autoversicherung zu verlängern. Ein eigentlich banaler Vorgang, doch Dietrichson ist nicht zugegen, dafür aber seine Frau Phyllis (Stanwyck), die Neff sofort schöne Augen macht, der sich dann auch folgerichtig in die aufreizende Frau verguckt. Es kommt zu weiteren Begegnungen, zu Andeutungen über Mr. Dietrichsons gewalttätiges Naturell und einen Anflug von Lust und Habgier später haben beide einen tollkühn unmoralischen Plan beschlossen: den als Unfall getarnte Mord an Dietrichson, um über eine Lebensversicherung doppelt abzukassieren.

Es ist das besondere Geschick der schwarzen Serie, nicht nur Interesse, sondern auch Verständnis und Sympathie für angehende Mörder beim Publikum zu entwickeln. Wir können sehen, wie sich Neff und auch Phyllis selbst und gegenseitig die Schlinge um den Hals legen, wie sie sich auf einen Weg des Unheils begeben und doch fiebert man mit ihnen, beobachtet, wie sie sich im Geheimen treffen, die Feinheiten des Plans besprechen und zur spannenden Durchführung schreiten. Insbesondere die legendäre Barbara Stanwyck ist meisterhaft und wurde nicht ohne Grund zu einer der markantesten Femmes Fatales der Ära. Erst mit dem Auftritt von Barton Keyes (der immer sympathische Edward G. Robinson), ein Freund und Kollege Neffs, der den Dietrichson-Fall kontrolliert, wird die Zuschauerperspektive komplizierter und spannender. Ausgehend vom perfekt ausgearbeiteten Script dreht, lenkt und trickst sich Billy Wilder nach allen Regeln der Kunst durch diesen von Leidenschaft und Gier geprägten Mord- und Betrugsfall. „Frau ohne Gewissen“ sieht nicht nur edel aus, sondern erzählt seine reizvolle Geschichte auch besonders spannend, ist daher fraglos einer der besten Film Noirs überhaupt.

9,5/10

„Frau ohne Gewissen“ ist auf DVD und Blu-ray erhältlich, steht zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung aber auch bei Prime Video im Abo zur Verfügung.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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