BG Kritik: „Soul“ (Pixar)

26. Dezember 2020, Christian Westhus

Nach „Onward“ der zweite Pixar des Jahres, wenn auch aufgrund der globalen Umstände nun direkt bei Disney+. Vom Regisseur von „Alles steht Kopf“ geht es um eine Seele, die in ihren menschlichen Körper zurückfinden will. Und um so viel mehr.

Soul
(USA 2020)
Regie: Pete Docter
Originalsprecher: Jamie Foxx, Tina Fey, Rachel House, Richard Ayoade, Alice Braga, uvm.
Synchronisation: Charles Rettinghaus, Katrin Fröhlich, u.a.
Veröffentlichung Deutschland: 25. Dezember 2020 (Disney+)

Pixar kann es noch. Oder anders formuliert: Pixar kann es nicht lassen. Manch einer rümpft vermutlich noch immer die Nase über seelenlose Konzepte wie „Cars 2“, enttäuschende Fortsetzungen wie „Findet Dory“ oder durch interne Differenzen verunglückte Werke wie „Merida“, aber bei Pixar werden sie nicht müde, sich und ihre Zuschauer herauszufordern. „Soul“ könnte das bis dato größte konzeptionelle Wagnis seit „Toy Story“ für das inzwischen bei Disney eingegliederte Animationsstudio sein. Dass der Film dabei ungewollt in seiner Veröffentlichung beeinträchtigt wurde, wirkt wie eine tragische Konsequenz, auch wenn wir alle die größeren Umstände dieser Entwicklung kennen.

Pixar vermochte es schon immer, schwierige Themen und komplexe Ideen in kind- und familiengerechte Unterhaltung zu verpacken. Und kaum jemand vermochte das bei Pixar so gut und gerne wie Pete Docter. Docter war Autor der frühesten Pixar-Stunden und der ersten beiden „Toy Story“ Filme, trat mit „Die Monster AG“ erstmalig als Regisseur auf, um einen spielerischen und doch ernst gemeinten Umgang mit Ängsten und inneren Traumata durch eine ins Phantastische abstrahierte Welt darzustellen. Über die Eröffnungsviertelstunde von Docters „Oben“ wird noch heute gesprochen als täten sich „Bambi“ und „E.T.“ zusammen. Und dann natürlich „Alles steht Kopf“, Docters letzte Regiearbeit und das bis dato größte Wagnis in konzeptioneller Abstraktion. Einiges von „Soul“ erinnert an „Alles steht Kopf“, aber auch an die lebensbejahende Attitüde aus „Oben“, kombiniert mit einer Auseinandersetzung mit der eigenen körperlichen Vergänglichkeit (um nicht zu sagen: Tod), die „Coco“ in nichts nachsteht. Selbst wenn der individuelle Zuschauer am Ende keinen Zugang zu „Soul“ finden sollte, gibt es an der Ambition dieses Films keinen Zweifel.

© Disney/Pixar

„Soul“ erzählt vom Ü40-Musiker Joe Gardner (gesprochen von Jamie Foxx bzw. Charles Rettinghaus im Deutschen), der sich aktuell als Musiklehrer an einer High School durchschlägt, aber noch immer von der großen Jazz-Karriere träumt. Denn Musik ist seine Berufung, glaubt Joe. Als er dann tatsächlich aus heiterem Himmel die eine schicksalshafte Chance erhält, ist Joe in seiner Euphorie so unaufmerksam, dass er in einen Schacht stürzt und stirbt. Oder fast stirbt. Während sein Körper komatös in einem Krankenhaus liegt, bereitet sich Joes Seele auf das Große Danach vor. Doch Joes Seele will noch nicht und landet über transzendente Umwege im Großen Davor. Hier entstehen neue Seelen noch ungeborener Menschen, werden mit Persönlichkeiten und Interessen ausgestattet. So genannte Mentoren sollen die unfertigen Seelen betreuen, ihnen den letzten Impuls geben, den so genannten Funken, einem Kern-Interesse, mit welchem sie bereit für das Leben auf der Erde werden. Als blinder Passagier ist nun Seelen-Joe in der Rolle des Mentors und sollte kurz darauf stutzig werden, als der „Name“ seiner zu betreuenden Prä-Seele genannt wird. Zuvor war von einer Seele Nr. Irgendwas-Milliarden die Rede, doch Joes Seele heißt 22. Nicht Milliarden, nicht Millionen, nicht einmal Hundert. Nur 22. Diese Seele-22 (gesprochen von Tina Fey/Katrin Fröhlich) konnte sich seit Jahrzehnten und Jahrhunderten dem Prozess verweigern, endlich Erd-fertig zu werden.

Die (bereits gegenderten) Seelen sind drollige kleine Knirpse, wie aufgeweckte Licht-Kinder. Die Prozesse im Großen Davor werden von abstrakten Wesen geleitet, oftmals mit Namen Jerry, die in ihrer Gestaltung an Picassos Einzellinie-Zeichnungen erinnern. Anders als bei „Alles steht Kopf“, wo die einzelnen Stationen und Bereiche des Bewusstseins mit blühender Fantasie vorgestellt und ausgespielt wurden, geht es zwischen Seelen-Joe und 22 recht schnell vorwärts, denn Joe hat keine Zeit zu verlieren und 22 bekanntlich keine Scheu, die Regeln dieser Sphären zu brechen. So purzeln beide in einen Hauptteil aus klassischem Pixar-Slapstick, turbulenten Eskapaden und Wettläufen gegen die Zeit. Und doch sind selbst diese Passagen in „Soul“ gemäßigt. Mehr noch als „Alles steht Kopf“ dürfte dieser Film eine Herausforderung für die jüngsten Zuschauer sein, ist der Handlung in ihrer metaphorischen Abstraktion nicht nur schwer zu folgen, sondern umfasst die Sinnsuche von Joe und 22 einige schwerwiegende und ernste Ideen. Abseits aller „Das Leben ist Jazz, voller Improvisation“ Motive, die durch das keineswegs zweitrangige Musikthema eingebracht werden, ist „Soul“ purer Existentialismus, befasst sich je nach Interpretation und subjektiver Zuschauerprägung mit Burn-Out oder Depressionen, könnte nur zu leicht in die Selbstmordprävention einfließen.

Mehr noch als „Alles steht Kopf“ sind die Figuren aber eben auch abstrakte Konzepte, die nicht immer vollständige bzw. vollwertige Personen sein können oder dürfen. Bei aller technischen Größe (und Pixars Animation wird besser und besser; die digitalen Kameras sind atemberauebend, das Licht, die Farben, die Bewegung – es ist enorm, auch wenn das Gefühl bleibt, das Studio habe sich stilistisch in eine Sackgasse animiert), wenn insbesondere am Ende die Sehnsucht nach der großen Leinwand zur Würdigung dieser Bildgewalt erwacht, bleibt vieles an „Soul“ Theorie. Joes Musik und seine zentrale Lektion über den persönlichen Funken und seine Berufung machen irgendwann richtigerweise Platz für die eigentliche Hauptfigur und doch geht erstklassig emotionales Pixar-Drama hier mehrfach Hand in Hand mit dem Gefühl, einem esoterischen Selbsthilfevortrag beizuwohnen. Es ist dem jeweiligen Zuschauer überlassen, wie sehr man sich in die eine oder andere Richtung mitziehen lässt.

Diese Beeinflussung geschieht natürlich auch über die Musik; in „Soul“ mit der zentralen Musik-Thematik natürlich noch mehr als in vorherigen Pixar-Filmen. Allein die Detailanimation der Musikszenen, wenn Joe in die Klaviertasten haut, versetzt schon ins Staunen. Doch die Musik selbst spielt eine entscheidende Rolle und sie ist äußerst gelungen. Hier teilen sich das erfolgsverwöhnte und erprobte Duo Trent Reznor und Atticus Ross den Job mit Jon Batiste. Während sich Letzterer für Joes Musik und für die Jazz-Passagen verantwortlich zeigt, übernehmen Reznor/Ross den allgemeineren Score und damit insbesondere die Vertonung der Vor-, Zwischen- und Danach-Welt. Manche Passagen, wenn zum Beispiel Buchhalter Terry die endlosen Archive nach der Seele durchsucht, die in seinem Tagesabschluss fehlt, klingen unverwechselbar nach den Musikern, die sich mit „The Social Network“ oder „Gone Girl“ in den letzten Jahren einen großen Namen als Filmkomponisten gemacht haben. Andernorts fühlt man sich womöglich an Nine Inch Nails‘ „Ghost“ Arbeiten erinnert. Dass hier nur niemand etwas wie „Downward Spiral“ erwartet, auch wenn Joes Seele sich hier zeitweise auf einem ‚Upward Escalator‘ befindet.

Fazit:
Ambitioniert und komplex. Pixars Neuer ist womöglich zu schwer und anspruchsvoll für die Kleinsten und selbst für Erwachsene eine konzeptionelle Herausforderung. Doch diesen erzählerischen Mut darf man gerne belohnen, auch da „Soul“ inszenatorischen, animationstechnisch und in Sachen Unterhaltung eine Menge abliefert.

7,5/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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