BG Kritik: „You can count on me“

27. August 2020, Christian Westhus

Sehenswertes Drama mit Mark Ruffalo und Laura Linney: Nach dem Tod der Eltern hatten die Geschwister Samantha (Linney) und Terry (Ruffalo) Prescott eine besondere Verbundenheit. Jahre später als Erwachsene hat diese Verbindung Risse bekommen. Nach Jahren der Abwesenheit kommt Terry zurück in die dörfliche Heimatstadt und zu Samantha, die alleine einen Jungen (Rory Culkin) großzieht und sich mit ihrem neune Chef (Matthew Broderick) herumplagt. Samantha und Terry geraten mit unterschiedlichen Lebensauffassungen schnell aneinander.

You can count on me
(USA 2000)
Regie: Kenneth Lonergan
Darsteller: Laura Linney, Mark Ruffalo, Rory Culkin, Matthew Broderick
Kinostart Deutschland: 19. April 2001

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, ursprünglich veröffentlicht im Juni 2014.)

Das Regiedebüt des amerikanischen Dramatikers Kenneth Lonergan hatte einen prominenten Unterstützer in Martin Scorsese, der als ausführender Produzent nicht nur einen Einfluss auf das Finanzielle hatte, sondern Lonergan auch eine Unabhängigkeit ermöglichte, die nicht viele Debütanten bekommen. Anders als Lonergans Nachfolgeprojekt, das Drama „Margaret“ mit Anna Paquin, das mehrere Jahre zurückgehalten wurde, ist „You can count on me“ aber auch ein vergleichsweise geradliniger und gewöhnlicher Film. Dies aber im besten Sinne.

Die Geschichte zweier Geschwister, die nach einem Schicksalsschlag in Kindertagen als Erwachsene gänzlich andere Lebenswege eingeschlagen haben, ist ganz entschieden unkitschig und vermeidet diese Schwere und Bitterkeit, die häufig Filme dieser Art befällt. „You can count on me“ ist natürlich und leicht, ohne oberflächlich zu sein. Ganz im Gegenteil. Lonergans Drehbuch fokussiert sich, ganz seinen Anfängen als Theaterdramatiker geschuldet, aufs gesprochene Wort und auf lebendige Figuren. Wir beobachten ganz zentral diese beiden Geschwister, Terry und Samantha, die aufeinander treffen und ihre unterschiedlichen Lebensauffassungen aneinander ausreizen, ohne dass ein zentraler Konflikt sie künstlich hin und her schickt.

Terry besucht seine Schwester nach einer längeren Phase der Distanz wieder, um ein bisschen Geld abzuzwacken, denn der unbeständige Terry, den Mark Ruffalo als lockeren, aber gleichzeitig verbohrten Schluffi spielt, steht ständig zwischen verschiedenen Jobs und wechselnden Wohnorten, hat zudem Probleme mit einer Frau. Samantha hat sich dem kleinstädtischen Leben ihrer Heimatstadt hingegeben, ist alleinerziehende Mutter eines etwas zehnjährigen Jungen und plagt sich mit ihrem neuen Chef in der Bank herum, der mit gut gemeinten neuen Regeln für viel Stress sorgt. Ein bisschen geht es um Terrys Zukunft, ein bisschen um Samanthas Eskapaden mit dem Chef, und ein bisschen um die offene Vaterschaftsrolle bei ihrem Sohn Rudy. Doch einen konkreten Plot gibt es nicht bzw. er interessiert Lonergan nicht, der lieber Menschen beobachtet und unvoreingenommen miteinander konfrontiert.

© Paramount / Sony Pictures

Das Faszinierende an „You can count on me“ ist die flexible Sympathievergabe. Terry und Samantha sind sympathisch genug und doch gleichzeitig schwierig, egoistisch, fehlerhaft. Terrys flapsige Lockerheit ist bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar, doch irgendwann geht sie zu weit. Samanthas rationale Vernunft ist je nach Blickwinkel fürsorglich und aufmerksam, oder egoistisch und spießig. Selbst Kirche und Religion bringt Lonergan unaufdringlich und in wunderbar entwickelten Dialogen ins Spiel, wenn er selbst als Darsteller in der Rolle als kirchlicher Therapeut auftritt, der zwischen Terry und Samantha vermitteln soll. Das Kino erzählt so selten von Geschwistern, insbesondere von Geschwistern mit unterschiedlichem Geschlecht. Umso schöner ist es hier, eine so realistische, erwachsene und thematisch reizvolle Geschwistergeschichte zu bekommen, in der familiärer Zusammenhalt weder als unumstößlicher Fakt, noch als restriktive Fessel beschrieben wird, sondern als ein Ideal, für das man arbeiten muss. So, wie man auch für sein eigenes Glück arbeiten muss.

Was das ist, dieses eigene Glück, muss jeder selbst herausfinden und muss vielleicht auch mal erkennen, dass man manchen Menschen ihre Freiräume geben muss, egal wie gut gemeint die Ratschläge und Unterstützungen sind. Das wirkt auch auf die beiden zentralen Nebenfiguren, auf Matthew Broderick als Samanthas übermäßig penibler Chef, und auf Rory Culkin als Samanthas vaterloser Sohn. Gut gespielt und gut gewickelt sind diese beiden Figuren mehr als mechanische Hebel, die den Lebensweg der beiden Hauptfiguren beeinflussen. Nicht zuletzt sieht klein Rudy in Onkel Terry auch einen möglichen Vaterersatz. Eine Rolle, die Terry, für den Verantwortung ein beengendes Wort ist, auf seine ganz eigene Art und Weise einnimmt. Das macht Terry vielleicht zu spannenderen Figur, doch es ist Laura Linney, die absolut verdient eine Oscarnominierung für ihre Leistung hier erhielt, die als äußerlich ruhiges, innerlich ungestümes Verbindungszentrum sämtlicher Handlungsstränge einen besonders bleibenden Eindruck hinterlässt.

Fazit:
Wunderbar natürlich geschriebener Geschwisterkonflikt, der unnötige Schwere und Bitterkeit vermeidet, ohne die eigene Ehrlichkeit und authentische Emotionen dafür zu opfern. Zudem großartig gespielt, insbesondere von Laura Linney und Mark Ruffalo.

8,5/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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