Treasure Tuesday Spezialkritik: „The Rider“
Regisseurin Chloé Zhao gewann jüngst den Hauptpreis in Venedig und bringt „bald“ einen neuen Marvel Superheldenfilm heraus. U.a. mit diesem realistischen und feinfühligen Drama über einen jungen Rodeo-Reiter wurde die Filmemacherin berühmt. „The Rider“ (2017), unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.
The Rider
(USA 2017)
Regie: Chloé Zhao
Darsteller: Brady Jandreau, Mooney, Tim Jandreau, Lilly Jandreau u.a.
Kinostart Deutschland: 21. Juni 2018
Was ist das für ein Film?
Ein Indie-Geheimtipp, aber auch die Visitenkarte einer Regisseurin, die daraufhin von Disney/Marvel angeheuert wurde. Der junge Brady Blackburn (Brady Jandreau), ein Nachkomme von Lakota-Sioux, lebt im Reservat in South Dakota. Pferde, Reiten und Rodeo sind der einzige wirklich wichtige Lebensinhalt für Brady, die einzige Sparte, in der er Interesse und Talent verbinden kann. Doch nach einem Sturz beim Rodeo erleidet Brady eine schwere Kopfverletzung, die seine motorischen Fähigkeiten beeinträchtigt und immer wieder zu körperlichen Anfällen führt. Ärzte raten ihm, die Reitstiefel permanent an den Nagel zu hängen. Die in Armut lebende Familie – die Mutter tot, der Vater spielsüchtig und die jüngere Schwester autistisch – benötigt Geld, muss vielleicht das geliebte Pferd Gus verkaufen. So fängt Brady an, im Supermarkt zu arbeiten, versucht sich aber auch als Reit- und Pferde-Coach. Doch immerzu ist da dieses Verlangen, es noch einmal beim Rodeo zu versuchen.
Warum sollte mich das interessieren?
Nachdem ihr aktueller, in Deutschland vermutlich 2021 erscheinender Film „Nomadland“ den Hauptpreis beim Filmfestival in Venedig gewann (die bisherigen Gewinnerinnen dieses Preises kann man an einer Hand abzählen), ist Filmemacherin Chloé Zhao in aller Munde. Bisher überwiegend in der Indie- und Festival-Szene aktiv und bekannt, steht Zhao bald ein noch größerer Popularitätssprung bevor, wenn sie (vielleicht) 2021 „The Eternals“ für Marvel vorstellt. Grund genug also, sich mit der bisherigen Arbeit der überwiegend in den USA arbeitenden gebürtigen Chinesin zu befassen.
„The Rider“ ist Zhaos zweiter Spielfilm und war 2017 ein mehr als beachtlicher Erfolg in Festival-Kreisen. Ähnlich wie und vermutlich noch stärker als Sean Baker („The Florida Projekt“) sucht die Regisseurin ihre Stoffe und Figuren bei echten Menschen, stöbert in vergessenen oder übersehenen Gruppen und Kulturen der amerikanischen Gesellschaft nach dem interessantesten Schicksal. Zhaos Filme sollen beinahe dokumentarisch real sein. Das geht so weit, dass diese Geschichte nicht nur auf realen Begebenheiten basiert, sondern dass Hauptdarsteller Brady Jandreau quasi seine eigene Lebensgeschichte nachspielt. Jandreau selbst war ein talentierter Rodeoreiter, dem eine große Karriere bevorstand, ehe ein Sturz diesen Traum beendete. Jandreau ist kein gelernter Schauspieler, lernte Zhao 2014 kennen, als diese ihren Debütfilm „Songs my Brother taught me“ in South Dakota drehte. Auch Film-Vater und Film-Schwester spielen sich selbst, wie auch Kumpel und Ex-Kollege Lane Scott, der nach einem ähnlichen Unfall als Pflegefall im Krankenhaus liegt, vom echten Ex-Rodeo-Champion Lane Scott gespielt wird, der seit einem Autounfall körperlich schwer beeinträchtigt ist.
Der Wunsch nach Authentizität überträgt sich auch auf den Regiestil, ohne zu vergessen, dass es eben doch ein quasi-fiktionalisierter Spielfilm ist. Niemals verschlägt es Zhao als Regisseurin ins Docu-Fiction Territorium ähnlich gearteter europäischer Filmemacher. Die Handkamera und der ungeschönt direkte Stil, wie ihn z.B. die Brüder Dardennes ausüben? Davon ist „The Rider“ dann doch ein gutes Stück entfernt. Zhao sucht die bodenständige Kino-Poesie des amerikanischen Indie-Films, fotografiert und arrangiert mit einer Ausdrucksstärke und Wehmut, welche die inneren Prozesse der Figuren, ihrer authentischen Gesichter und aus dem Leben gegriffenen Schicksale noch verstärkt. Verwechselt das (europäische?) Sozialkino „Natürlichkeit“ hin und wieder mit „Distanz“, ist Chloé Zhao als Erzählerin voll aktiver Neugierde und mit einer spürbaren Empathie unterwegs. „The Rider“ ist ruhiges, behutsam erzähltes Kino, nicht selten schmerzhaft direkt und oftmals unangenehm nah, doch all dies verwebt die Regisseurin zu einem wunderbar feinfühligen Ganzen.
„The Rider“ ist zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung bei Prime Video im Abo verfügbar, ist ansonsten bei allen gängigen Anbietern leih- oder kaufbar.
Du willst noch mehr spezielle Geheimtipps und Filmempfehlungen? Die gesammelten Treasure Tuesday und ältere Treasure Monday Rezensionen gibt es hier!
Zur Registrierung