BG Kritik: „Niemals Selten Manchmal Immer“

5. Oktober 2020, Christian Westhus

Prämiert in Sundance und auf der Berlinale, erzählt der neue Film von Regisseurin Eliza Hittman von einer jungen Schülerin, die aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft den Plan fasst, eine Abtreibung durchzuführen. Ein Plan, der einige Schwierigkeiten und Hindernisse bereithält. Amerikanischer Indie-Film, aktuell in den deutschen Kinos und hier in der Kritik.

Niemals Selten Manchmal Immer
(Originaltitel: Never Rarely Sometimes Always | USA, UK 2020)
Regie: Eliza Hittman
Darsteller: Sidney Flanigan, Talia Riley u.a.
Kinostart Deutschland: 01. Oktober 2020

„Schlampe“ ist das erste gesprochene bzw. laut gerufene Wort in „Niemals Selten Manchmal Immer“, dem neuen Film von Indie-Filmerin Eliza Hittman. Die 17-jährige Autumn (Sidney Flanigan in ihrem immensen Filmdebüt) steht bei einem Talentwettbewerb auf der Bühne ihrer Schule und singt ein Lied, dessen inhaltliche Bedeutung ihr und uns womöglich (noch) nicht so ganz bewusst ist, als ein männlicher Mitschüler im Publikum beleidigend dazwischenruft. Für einen Moment verschlägt es Autumn die Sprache, das Publikum bleibt ungerührt, niemand schreitet ein, niemand fischt den Schreihals heraus, also macht Autumn einfach weiter, quält sich durch ihre Gesangsnummer. Wie so viele Details dieses außergewöhnlichen Films, erreichen uns die Dimensionen und Bedeutungsebenen dieser Einführungsszene erst mit Verzögerung, erst im Anschluss, wenn wir gezwungen sind, uns mit dem Gezeigten auseinanderzusetzen.

© Universal Pictures Deutschland

Womöglich wissen wir als Zuschauer bereits durch die Berichterstattung etwas, das Autumn zunächst noch nicht so recht glauben kann und will. Unsere Assoziationen, auch in Bezug auf den dummen Mitschüler, sind da eigentlich unvermeidbar. Für Autumn spielt der Kerl keine Rolle oder spielt keine Rolle mehr. Ob er eine verflossene Liebe war, eine bedeutungslose Nacht oder vielleicht aus völlig anderen Gründen so gehässig und herablassend war, können wir auch am Ende nicht beurteilen und schon gar nicht wissen. Autumn hat keine beste Freundin, der sie sich anvertrauen kann, kein gesichertes Elternhaus, aus welchem sie die notwendige Unterstützung erhält (oder erhalten will), um einen vernünftigen Umgang mit ihrer ungewollten Schwangerschaft zu finden. Nicht nur Autumn selbst umgibt eine große Menge Unausgesprochenes, auch die übrigen Schauplätze sind getrübt von einer vagen Ahnung, von Vermutungen, jedoch nur selten von klar ausgesprochenen Fakten. Das betrifft nicht nur den Mitschüler vom Anfang, sondern eben auch das Elternhaus. Autumns Geschwister sind ein auffälliges Stück jünger als sie, der Vater bemerkenswert unfreundlich und herzlos zu seiner vermeintlichen Tochter. Was genau in dieser Familie vorgefallen ist, wie diese Menschen wirklich zueinander stehen, bleibt unausgesprochen.

Eher zufällig erhält Autumns Cousine Skylar (Talia Riley) das Vertrauen bzw. ergreift dieses bei Gelegenheit, wird eingeweiht in die unangenehme Wahrheit der Schwangerschaft und in den bald geformten Entschluss, eine Abtreibung vornehmen zu wollen. Die Ärztinnen der Frauenklinik in der verschlafenen Heimatstadt Pennsylvanias, von denen Autumn die Fakten ihrer Situation erhält, sind zwar ausgesprochen freundlich, setzen ihr aber auch fast automatisch ein reißerisches Anti-Abtreibungsvideo aus dem 80ern vor. Da sie noch keine 18 ist, bräuchte die junge Frau in ihrem Bundesstaat die Einwilligung ihrer Eltern für eine Abtreibung, was einhergehend mit der Einweihung ihrer Eltern in die Schwangerschaft wäre und damit unerwünscht ist. Erst die Planned Parenthood Klinik in New York scheint die Lösung für das Problem zu sein, doch die Schülerin, die nebenbei als Kassiererin in einem schnöden Supermarkt arbeitet, hat eigentlich nicht genügend Geld, um die Fahrt, den Aufenthalt und den Eingriff zu bezahlen.

© Universal Pictures Deutschland

Irgendwie schlagen sich Autumn und Skylar dann doch bis nach New York und bis zur Klinik vor, machen unterwegs Bekanntschaft mit einem flirtenden Jungen, beobachten religiös-konservative Protestanten und stehen vor weiteren Problemen, als der Aufenthalt länger dauert als geplant. Ohne viele Worte und ohne große Gesten treiben die beiden jungen Frauen durch die nächtliche Großstadt. Wer mit den bisherigen Filmen von Regisseurin Eliza Hittman vertraut ist, z.B. „It felt like Love“ oder „Beach Rats“ (beide sehenswert), wird bereits ein Gefühl dafür haben, wie sehr die Filmemacherin Dinge in der Schwebe lässt, wie viel Bedeutung sie kleinen Gesten und der vagen Ahnung von Unausgesprochenen beimisst. Dieses Spiel erwartet den Zuschauer auch hier und kann nicht selten frustrierend wirken. Irgendwie erwartet man und hofft darauf, dass die beiden Cousinen sich einander annähern, ein offenes entlastendes Wort sprechen oder die stützenden Arme des anderen suchen. Doch dazu kommt es nicht, jedenfalls nicht wirklich. Auch Skylar hat ihren kleinen Kelch zu tragen, womit nicht nur der Reisekoffer gemeint ist, der ihnen durchs wilde (und oftmals vermutlich „Guerrilla“-mäßig direkt auf den Straßen eingefangene) New York folgt. Diese emotionale Zurückhaltung und Reduzierung hat jedoch Methode, um sich in kleineren Gesten zu entladen, die plötzlich ein wesentlich größeres Gewicht erhalten.

Für „Niemals Selten Manchmal Immer“ entlädt sich dieses Vorhaben insbesondere in der Szene, die dem Film zu seinem Titel verhilft. Zumindest glaubt man das zunächst. In der Planned Parenthood Klinik wird Autumn zu ihrem Leben, ihrer Krankheitsgeschichte, aber auch zu ihrem Liebes- und Sexualleben befragt, zum möglichen Erzeuger. Lediglich diese vier Worte stehen ihr zur Verfügung, um die Fragen zu beantworten; keine Details, keine Fakten, nur diese vier Worte und das Gesicht des jungen Mädchens, welches sie ausspricht. Es ist eine gewaltige Szene und diese Informationen verfolgen den Zuschauer für den Rest des Films, bis zum Ende, welches zunächst gefühlt zehn Minuten zu früh kommt. Was denn nun?, möchte man vielleicht in einem ersten Impuls zur Leinwand rufen, fast so wie ein dummer Kerl aus der Eröffnungsszene, der ungefragt dazwischenruft. Auch ohne die besorgniserregenden Entwicklungen der letzten Jahre in den USA wäre „Niemals Selten Manchmal Immer“ ein enorm politischer Film, fordert fast unweigerlich Vergleiche mit dem großen „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ heraus. Und ja, in gewisser Weise ist dieser Film „nur“ der Prozess einer jungen Frau, die sich aus den Umständen ihrer Situation heraus aufmacht, um eine Abtreibung vorzunehmen. Doch wenn man während des Abspanns nicht schon ans Abendessen denkt oder direkt das Handy herausholt, wenn man es zulässt, diesen Film und seine so faszinierend-unnahbare Hauptfigur an sich heranzulassen, dürfte man einige spannende Beobachtungen und Erfahrungen machen. Erst im „Danach“ des Zuschauers entwickelt dieser bemerkenswert inszenierte und stark gespielte Film sein immenses Potential. Es ist nicht einfach nur die Geschichte eines politisch- und gesellschaftlich aufgeladenen Problems, sondern eine der komplexesten und schmerzhaftesten Studien, welch zerstörerischen Einfluss Scham und Schuldgefühle auf unser Denken und Handeln haben.

Fazit:
Regisseurin Eliza Hittman inszeniert mit Zurückhaltung und dramatischer Reduzierung, vermag in ihrer natürlich anmutenden Prozessschilderung aber dennoch hochkomplexe Welten zu erkunden. Ein bemerkenswerter Film, der durch realweltliche Entwicklungen der letzten Jahre nur noch wichtiger geworden ist.

8/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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