Treasure Tuesday Spezialkritik: Cinema Paradiso

7. Juli 2020, Christian Westhus

Gemeinsam neue Filme entdecken. Zum Beispiel einen der ausgewählten Schätze, die wir wöchentlich beim Treasure Tuesday vorstellen. Vergessene Filme, unterschätzte Filme, alte Filme, fremdsprachige Filme. Filme die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht. Erst gestern haben wir im Zuge des Todes von Ennio Morricone über diesen Film gesprochen. Manchmal ruft ein solcher Verlust die richtigen Filme in Erinnerung. Filme wie Giuseppe Tornatores Oscargewinner CINEMA PARADISO (1988).

© Concorde Filmverleih

Cinema Paradiso
(Nuovo Cinema Paradiso | Italien, Frankreich 1988)
Regie: Giuseppe Tornatore
Darsteller: Philippe Noiret, Salvatore Cascio, Jacques Perrin, Marco Leonardi, u.a.

Was ist das für ein Film?
Der vermutlich bekannteste und erfolgreichste Film von Regisseur Giuseppe Tornatore (DER ZAUBER VON MALENA, THE BEST OFFER). Eine in Ansätzen autobiographische, dadurch wehmütig-nostalgische Rückschau auf die Kindheit und die Liebe zum Kino. Das Leben im sizilianischen Fischerdorf Giancaldo steht ganz im Zeichen der zwei „K“ – Kirche und Kino. Doch natürlich wird das zweite K beherrscht und beeinflusst durchs erste, welches von Moral und Anstand spricht, um vermeintlich anstößige Momente aus Filmen zu entfernen.

Der kleine Salvatore alias Toto flieht immerzu aus der priesterlichen Strenge der Ministrantenschule in den Vorführraum des Cinema Paradisos, des kleinen Dorfkinos. Hier entwickelt Halbwaise Toto eine intensive Freundschaft zu Filmvorführer Alfredo und eine lebenslange Liebe zum Kino. So wird der Vorführraum zur Tür, zum Durchgangsbereich in eine neue und unendliche Welt, die sich auf der Leinwand erstreckt. Auf all dies blickt der erwachsene Salvatore, inzwischen selbst ein erfolgreicher Regisseur geworden, wehmütig zurück. Die Nachricht eines Todesfalls weckt die Erinnerungen an die eigentlich längst vergessene Kindheit. Also kehrt Salvatore nach Giancaldo zurück, gut drei Jahrzehnte, nachdem er seinem Heimatdorf den Rücken zugekehrt hatte. Die Zeit ist an niemandem unbemerkt vorbeigegangen, nicht an Giancaldo und nicht an Salvatore.

Warum sollte mich das interessieren?
Die Verbindung aus Kino und Nostalgie ist naturgemäß enorm streng. Doch es erfordert erzählerischen Mut und Talent, um aus einer Weichzeichner-Rückschau etwas Signifikantes zu machen. Dies gelingt Regisseur Giuseppe Tornatore so ausgesprochen gut in diesem Film, der immerzu an der Grenze zur Sentimentalität agiert, diese vielleicht sogar hier und da überschreitet, letztendlich aber doch immer wieder in Grauenzonen und komplizierten Nuancen zurückkehrt. All dies befindet sich bereits in der Hauptfigur, im erwachsenen Salvatore, der nach der radikalen Abkehr von Familie, Heimat und Kindheit erfolgreich seinen Traum vom Kino erfüllt und gelebt hat, der auf diesem Weg aber viele Verluste und offene Wunden in Kauf nehmen musste.

Diese Aspekte findet man aber auch im Umgang mit dem Kino selbst, welches eine stille Revolte gegen die Zensur und Deckelung der Kirche und der konservativen Dorfnatur ist, aber gleichzeitig auch das sichtbarste Opfer dieser Einflüsse sein muss. Die Hoffnungen und Möglichkeiten, die die Bilder, die aus dem Projektor heraus über die Leinwand springen, sind gleichzeitig Wahrheit und Lüge, sind ein möglicher Weg, der nicht ohne Verluste begehbar ist. Und schließlich ist es die Zeit selbst, die aus rührseliger Nostalgie zumeist eben latent bittere Wehmut macht. Die Veränderungen durch die Zeit, durch die Entscheidungen, die naturgemäß fehlerhafte Menschen treffen, erstrecken sich in alle Richtungen. An die Stelle des streng konservativen Dorfideals tritt zum Beispiel ein zuweilen zerstörerischer Modernismus.

Diese Aspekte verwebt Tornatore auf eigentümliche und doch wunderschöne Art und Weise. Ihm gelingt es – nicht zuletzt mit Hilfe der betörenden und effektiv eingesetzten Musik von Ennio Morricone – die Unbeschwertheit der Kindheit, die komplizierte Sinnsuche der Jugend und die Reue des Alters spannend und emotional zu kombinieren. Von der weiter verbreiteten Kinofassung ausgehend (Der fast 50 Minuten längere Director’s Cut erweitert bzw. verlegt die Geschichte recht stark in eine etwas andere Richtung.), möchten wir am liebsten die volle Zeit beim kindlichen Toto und bei Alfredo verbringen, an Totos ungetrübter Freude und Entdeckungslust teilnehmen. Doch nicht nur die Erzählweise als durchgehende Rückschau erweitert das Gesehene immerzu um die nötigen Informationen und Spitzen, um diese Szenen in ein größeres oder anderes Licht zu rücken. Bis all diese Vorgänge schließlich in der legendären Szene gegen Ende kulminieren, in einer Montage zusammenlaufen, die diese Entwicklungen und konfliktreichen Empfindungen abrunden. Allein diese Szene muss jeder Filmliebhaber mal gesehen haben. Und sie entfaltet – in Bild und Musik – nur ihre volle Pracht, wenn man sie im Kontext dieser Geschichte wahrnimmt.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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