Treasure Tuesday Spezialkritik: „Blut an den Lippen“

22. Juni 2021, Christian Westhus

Extravaganter europäischer Vampirfilm mit der großartigen Delphine Seyrig. Harry Kümels „Blut an den Lippen“ (1971), , unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Bildstörung

Blut an den Lippen
(Originaltitel: Les L’evres rouges | Belgien, Frankreich, Deutschland, USA, Kanada 1971)
Regie: Harry Kümel
Darsteller: Delphine Seyrig, John Karlen, Danielle Ouimet, u.a.
Kinostart Deutschland: 03. Dezember 1971

Was ist das für ein Film?
Harry Kümels avantgardistischer und erotischer Vampirfilm, auch bekannt als „Daughters of Darkness“, trägt in gewissen Kreisen Kultstatus. Doch diese Kreise sind noch vergleichsweise klein. Zeit, daran etwas zu ändern. Wir haben es hier nicht einfach nur mit Vampiren zu tun, sondern treffen auf die berühmte Gräfin Elizabeth Bathory; x-fach in schwächeren Filmen aufgegriffen, hier jedoch in der definitiven Version, transportiert in die Gegenwart der Entstehungszeit des Films. Darum geht es: Stefan (John Karlen) und Valerie (Danielle Ouimet) sind gerade miteinander durchgebrannt, haben heimlich und schnell geheiratet und kommen nun in einem Grand Hotel im belgischen Ostende unter. Kurz darauf erreicht auch Gräfin Bathory (Delphine Seyrig) das Hotel, in Begleitung ihrer auffälligen Begleiterin Ilona (Andrea Rau). Sofort fällt der Gräfin Valerie auf und lässt sie nicht mehr los. Doch es ist Stefan, der seinerseits von der Gräfin besessen ist, nach einer Weile auffällige Stimmungsschwankungen und Verhaltensauffälligkeiten offenbart. Und dann werden in der Gegend auch noch tote junge Frauen gefunden.

Warum sollte mich das interessieren?
„Blut an den Lippen“ wirkt auf den ersten Blick wie eine etwas aufgesexte französische (pardon, belgische!) Arthouse-Version von Argentos „Suspiria“, nur eben mit Vampiren statt mit Hexen. Es ist ein Vergleich, der zunächst einmal recht hilfreich ist, denn auch dieser Film ist eine Stilübung, eine wahre Schau in Sachen Bilder und Stimmungen, mit Atmosphäre, Flair und einer leicht surrealen Note, die zumeist einen höheren Stellenwert einnehmen als narrative Stringenz und Ordnung. Von zentraler Bedeutung in diesem – im Vergleich zu Argento vielleicht weniger rauschhaft und doch auffällig – extravagant bebilderten und gestalteten Film ist Schauspielerin Delphine Seyrig. Als eine der markantesten französischen Darstellerinnen der 1960er und 70er spielte Seyrig unter Größen und Giganten wie Alain Resnais, Francois Truffaut, Luis Buñuel und Chantal Akerman. Dazu bietet „Blut an den Lippen“ einen Musikscore zum Niederknien und drin versinken. François de Roubaix‘ Klänge sind poppig und prog-ig verspielter Jazz mit einem Touch Morricone.

Der belgische Regisseur Harry Kümel war in seiner überschaubaren und bis heute wohl zu sehr vernachlässigten Karriere regelmäßig im abseitigen und extravaganten Milieu unterwegs; inszenatorisch und inhaltlich. Denn dieser Film ist eben nicht ausschließlich ein vermeintlicher „Style over Substance“ Rausch – als wäre so etwas in dieser Qualität und ungewöhnlichen Art etwas Schlechtes?! „Blut an den Lippen“ erzählt von sperrigen Menschen und, nun, Vampiren, von triebgesteuerten Figuren mit Ego, Machismo und Lust. Zu gleichen Teilen selbstgefällig und vielsagend pendelt der Film zwischen „kink“ und „camp“, lässt dabei einen heutigen Quertreiber wie Ryan Murphy mit seiner „American Horror Story“ Extravaganz immerzu alt aussehen. Denn der kleine Kult um „Blut an den Lippen“ ist letztendlich auch auf die „queere“ Natur der Prämisse zurückzuführen, ganz zentral die bisexuell bis lesbische Verführung und Anziehung durch Bathory und zu Valerie. Das ist nicht subtil, nicht tiefgreifend, war und ist in seiner stilvollen und Genregrenzen aufbrechenden Transgression aber ein Statement und noch immer einen Blick wert.

Auf DVD/BD erhältlich.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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