Treasure Tuesday Spezialkritik: „Bram Stoker’s Dracula“

8. September 2020, Christian Westhus

Meisterregisseur Francis Ford Coppola wagte mit „Dracula“ (1992) seinen einzigen Ausflug ins Horrorgenre. Ein oppulenter Rausch in Farben und Kostümen, unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Sony Pictures / Columbia

Bram Stoker’s Dracula
(USA 1992)
Regie: Francis Ford Coppola
Darsteller: Gary Oldman, Winona Ryder, Keanu Reeves, Anthony Hopkins u.a.

Was ist das für ein Film?
Es ist Dracula. Ganz klassisch, allerdings nicht in der populären Bela Lugosi Version von Universal, sondern, wie der Titel bereits stolz verkündet, gemäß der literarischen Vorlage von Bram Stoker. Man könnte allerdings auch von „Francis Ford Coppola’s Dracula“ sprechen, denn der legendäre Filmemacher hält sich inhaltlich zwar äußerst genau an Stokers romantisches Horrordrama, setzt diese Einflüsse aber auch ganz speziell und eigen um.

Es ist die Geschichte von Prinz Dracul (Gary Oldman), der als siebenbürgischer Herrscher gegen die Osmanen kämpft, nach dem Selbstmord seiner Frau Elisabeta jedoch einen Pakt mit finsteren Mächten schließt und zum Vampir wird. Jahrhunderte später glaubt er die wiedergeborene Elisabeta in der jungen Mina Murray (Winona Ryder) wiedergefunden zu haben. Um sie zu gewinnen, lockt Dracula Murrays Verlobten, Jonathan Harker (Keanu Reeves), nach Transsilvanien, um Mina in London zu verführen. Natürlich ist auch Abraham van Helsing (Anthony Hopkins) mit von der Partie, der den Kampf gegen den finsteren Untoten anführt.

Warum sollte mich das interessieren?
Francis Ford Coppola ist eine Film-Legende. An dieser Einschätzung kann es eigentlich keinen Zweifel geben. Die schier unvorstellbare Serie, in der er Meisterwerke wie „The Conversation“, „Der Pate“, „Apocalypse Now“ und „Der Pate 2“ hintereinander drehte und veröffentlichte, ist ein derart gewaltiger Lauf in Sachen Qualität und kritischem Erfolg, für den es in der Filmgeschichte fast keinen Vergleich gibt. Wer sich tiefer in Coppolas Filmographie hineinwagt, stößt auf unterschätzte kleine Wunderwerke wie „Die Outsider“ und insbesondere „Rumble Fish“. Doch „Bram Stoker’s Dracula“, obwohl fraglos bekannt und populär, fristet in Coppolas Schaffen ein Außenseiterdasein. Zu sehr Genre, zu „pulpy“, zu trashig, zu „künstlich“, so die häufigen Vorwürfe. Und diese Vorwürfe treffen zu. „Dracula“ ist Pulp, ist künstlich, ist Genre. Doch der Film ist all diese Facetten auf dem allerhöchsten Niveau und mit der größten Finesse inszeniert.

Womöglich ist Finesse nicht ganz der richtige Begriff, denn eher noch ist „Dracula“ der Film eines absoluten Ausnahmekönners, der sich mit einem stattlichen Budget (angeblich rund 40 Millionen 1992-er Dollar) mal so richtig austoben darf. Coppola ist komplett von der Leine gelassen und inszeniert einen hysterisch wildgewordenen Bildersturm, wie man ihn nicht so schnell noch einmal findet. Natürlich ließ sich auch Coppola von Mario Bava inspirieren, geht aber noch weiter. Der Regisseur verknüpft Entstehungs- und Handlungszeit des Romans mit den Anfängen des Films und schmeißt mit Wonne Trends und Tricks des frühen Kinos in den Film. Das Studio drängte Coppola zunächst zu einem „gewöhnlicheren“ Umgang mit Stil und Effekten, woraufhin Coppola – sein eigener Produzent über seine Firma Zoetrope – das engagierte Effektteam rausschmiss und durch seinen nicht einmal 30 Jahre alten Sohn Roman Coppola ersetzte, der als Second Unit Regisseur und Effekt-Berater agierte. (Und ja, es ist derselbe Roman Coppola, der als Produzent und Ko-Autor heute eng mit Wes Anderson zusammenarbeitet.)

Der Bilderrausch und der phantastische Einfallsreichtum in „Bram Stoker’s Dracula“ kommt nahezu komplett ohne digitale Effekte aus, nutzt Modelle, Kameratricks und andere analoge Effekte, sei es für optische Illusionen in Draculas Anwesen, wilde Bluteffekte oder die legendäre Zugfahrt mit Harkers Tagebuch und Draculas Augen im blutroten Himmel. Coppola ist kein Horror-Regisseur, also haut er in seinem einzigen (das spätere Voll-Experiment „Twixt“ mal ignoriert) Ausflug ins Horrorgenre alles raus, was er auf dem Kasten hat. Mit der wunderbaren Basis aus Stokers Roman, adaptiert von James Hart, und einem erstklassigen Cast (trotz des heute eher belächelten Akzents von Keanu Reeves) kann Coppola aus dem Vollen Schöpfen und eine der irrsten, schrillsten und schlicht sensationellsten Achterbahnfahrten des Genres unternehmen. Die Kamera von Michael Ballhaus, die fantastischen Sets und Masken, und ganz besonders Eiko Ishiokas oscarprämierten Kostüme tragen zum Gelingen dieses Films bei. Allein der Einstieg, der mit Schattenspiel-Kriegern, blutenden Kreuzen und Prinz Draculs unbeschreiblicher Muskelrüstung die historische Vorgeschichte absteckt, ist Grund genug, diesen Film zu schauen. Es ist ziemlich sicher nicht der beste Film, den Francis Ford Coppola je gemacht hat, doch vermutlich macht keiner seiner Filme derart Freude.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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