BG Kritik: „Die Schlacht um Algiers“

3. September 2020, Christian Westhus

Algerien in den 1950er Jahren: Nach 130 Jahren Kolonialzeit wird in den Straßen Algiers der Widerstand gegen die französische Kolonialbesetzung lauter. Die nationale Befreiungsfront (FLN) geht bald mit Gewehren und Sprengsätzen im Kampf für nationale Unabhängigkeit vor. Polizei und bald darauf das Militär reagieren mit tödlicher Gegengewalt. Mittendrin wird aus dem einfachen Mann Ali einer der wichtigsten Köpfe im Unabhängigkeitskrieg.

Schlacht um Algier
(Originaltitel: La Battaglia di Algeri | Italien, Algerien 1966)
Regie: Gillo Pontecorvo
Darsteller: Brahim Hadjadj, Jean Martin, Yacef Saadi
Kinostart Deutschland: 14. August 1970

Ein Kreislauf der Gewalt

In den meisten Fällen ist es unvermeidbar, Filme zumindest teilweise politisch zu sehen. „Politisch“ kann eine Vielzahl verschiedene Dinge oder Aspekte meinen, neben moralischen Tendenzen, Details in der Charakterzeichnung eben auch tatsächlich politische Hintergründe. Filme, die auf Fakten basieren oder von realen Ereignissen inspiriert sind, verweisen zunächst einmal nur auf diesen realen – und in der Regel um ein Vielfaches komplizierteren – Hintergrund. Doch die wenigsten politisch-realen Begebenheiten, die sich irgendwann in einem Film porträtiert wiederfinden, geschehen in einem Vakuum. Die wenigsten Konflikte entstehen von jetzt auf gleich ohne den geringsten Vorlauf.

Die Kolonialherrschaft Frankreichs in Algerien, die der italienische Regisseur und Journalist Gillo Pontecorvo in seinem vielfach preisgekrönten Film porträtiert, ist zum Zeitpunkt des Handlungseinstiegs bereits 130 Jahre alt. Und auf die eine oder andere Weise spüren wir die Auswirkungen dieser Situation noch heute. Pontecorvo ist an vielen Faktoren interessiert. Die Frage nach Schuld gehört nicht dazu. Pontecorvo zeigt einen erst langsam, dann urplötzlich und drastisch eskalierenden Konflikt, der mehr fordert, als jede beteiligte Seite verkraften kann und will. „Die Schlacht um Algier“ ist eindeutig darin, welche Seite das höhere, das hehrere Ziel verfolgt, lässt jedoch keinen Zweifel am mörderischen Chaos der Gewalt, die von beiden Seiten ausgeht.

© Pierrot le Fou

Das herausragende Element von „Die Schlacht um Algier“, einer der Gründe für den bis heute enormen Status in der Filmgeschichte, warum sich Meisterregisseur Steven Spielberg mehr als offensichtlich für seinen Film „München“ von diesem Film inspirieren ließ, ist die Authentizität. Pontecorvo lebte zur Recherche lange vor Ort, um das Bild Algiers zu verinnerlichen. Er besetzte überwiegend nicht-professionelle Schauspieler, fand Hauptdarsteller Brahim Hadjadj zufällig auf einem Markt und lässt Co-Produzent Yacef Saadi sich selbst spielen. Der einzige professionelle Schauspieler ist Jean Martin, in der Rolle eine französischen Colonels, der die Kolonialtruppen dirigiert und die Köpfe der algerischen Befreiungsfront aufsucht. In der Realität war Jean Martin lange Zeit geächtet und arbeitslos, da er sich früh offen oppositionell zum Algerienkrieg gezeigt hatte.

Pontecorvos Inszenierung war in den 1960ern seiner Zeit voraus. Er vollzieht das, was wir heute Dokumentarstil im Spielfilm nennen, was selbst Könner wie John Greengrass („Flug 93“, „Captain Philips“) nicht in dieser Form gelingt. Pontecorvo ist mit seiner Handkamera mitten auf den Straßen, folgt diesen Laienschauspielern mit ihren perfekt ausdrucksstarken Gesichtern durch enge Gassen, über Häuserdächer und in Bars und Cafés, wo bald Bomben explodieren, die so unmittelbar real wirken, dass es uns nicht nur im Angesicht der jüngsten Schreckensnachrichten kalt den Rücken herunterläuft. Wenn am Ende, nachdem der Anfangs eingeleitete Blick zurück wieder seinen Ausgangspunkt erreicht hat, die Massen die Straßen von Algier stürmen, wenn Schüsse fallen und schweres Kriegsgerät vorrückt, können wir nicht mehr zwischen dokumentierter Realität und inszeniertem Abziehbild unterscheiden. Nachdem wir Ali La Pointe, dem FLN-Anführer Jaffar und Colonel Mathieu gefolgt sind, von Pontecorvo in erstaunlich vielschichtiger, verblüffend ausbalancierter und verurteilungsarmer Weise geführt, sind wir im Chaos des eskalierten Konflikts verloren. Verurteilt wird nicht – zumindest nicht ohne Gegenargumente – der Wunsch nach Freiheit, wird nicht die französische Besatzung, wird nicht der Islam und nicht westliche Wertesysteme. Verurteilt werden die Gewalt und ihre zyklische Natur. Der Colonel selbst führt uns diesen moralisch-politischen Catch-22 ganz non-chalant vor, wenn er gewaltsames Vorgehen mit Bomben und Folter als einzigen Weg zum Erhalt einer schwammigen Situation formuliert.

Fazit:
Ein Klassiker des politischen Films, der von seiner intensiven Wirkung kaum etwas verloren hat und leider wieder an aktueller Relevanz gewinnt.

8,5/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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