BG Kritik: „Die dunkelste Stunde“ (Darkest Hour)

19. Januar 2018, Christian Westhus

Dunkirk aus anderer Perspektive: 1940. Hitlers Truppen überfallen Belgien und rücken durch Frankreich. England fürchtet die Invasion seiner Insel durch die Nazis und setzt Premierminister Neville Chamberlain ab. Nachfolger wird der unbeliebte da ungestüme Winston Churchill, der eine Lösung finden muss, wie das Königreich mit der womöglich größten Bedrohung der Geschichte umgeht. Derweil befinden sich rund 300.000 alliierte Truppen umstellt und ausgeliefert im belgischen Dünkirchen, während Churchills Ministeriumskollegen Friedensverhandlungen mit Hitler und Mussolini vorschlagen.

Die dunkelste Stunde
(Originaltitel: Darkest Hour | UK 2017)
Regie: Joe Wright
Darsteller: Gary Oldman, Kristin Scott Thomas, Lily James
Kinostart Deutschland: 18. Januar 2018

Dunkirk: Hinter den Kulissen.

Kein Film entsteht in einem Vakuum. Ebenso wird kein Film in einem Vakuum konsumiert. Unsere persönlichen Erfahrungen beeinflussen, wie wir auf Elemente in einem Film reagieren. Dazu gehört auch, dass bereits gesehene Filme eine Rolle spielen, wenn wir einem neuen Werk unsere Aufmerksamkeit schenken. Für „Die dunkelste Stunde“ kann es nur ein glücklicher Zufall sein, dass Christopher Nolans „Dunkirk“ erst vor wenigen Monaten unseren Erfahrungshorizont zur Befreiung alliierter Truppen aus Dünkirchen beeinflusst und geprägt hat. Joe Wrights neuer Film platziert die fatale Lage der Truppen in Belgien und Frankreich als erste große Bewährungsprobe für den neuen Premierminister Winston Churchill. Dieser sucht händeringend nach einer Lösung, setzt Logistisches in die Wege und darf sich dann erfreuen, wie Christopher Nolans Film quasi „aus dem Off“ Bilder und Taten folgen lässt. Joe Wright benötigt lediglich eine kurze Einstellung losschippernder Boote, um beim Zuschauer eine lebendige Erinnerung der Vorgänge auszulösen, die in „Darkest Hour“ nur im Hintergrund stattfinden.

Es wäre für diesen Film auch ein massiver Bruch mit dem inszenatorischen Grundkonzept, spielt sich der allergrößte Teil der Handlung doch in den dunklen Räumen, Fluren und Tunneln von 10 Downing Street, des Parlamentsgebäudes oder des königlichen Palasts ab. Das Geschehen ist zeitlich ebenso beschränkt wie die Örtlichkeiten, umfasst lediglich die Tage im Mai 1940, von der Abdankung Neville Chamberlains über Churchills Ernennung bis hin zur berühmten „An Stränden kämpfen“ Rede. Was räumlich und zeitlich so gut funktioniert, wirkt in Sachen Plot und Figuren nicht immer ausgewogen. Wir sehen Chamberlain und Lord Halifax (Stephen Dillane aus „Game of Thrones“) einen Mini-Coup gegen Churchill in die Wege leiten, sehen die Reaktionen des Königs, folgen mitunter Churchills Sekretärin Miss Layton (Lily James), während es eigentlich unbestreitbar Winston Churchills Film ist. Doch welches Problem, welches Hindernis hat der grantige Zigarrenraucher nun wirklich zentral zu bewältigen? Es ist eben nicht konkret Dünkirchen, wie man vermuten könnte. Churchill war für die konservative Regierung eine Notlösung, um auch die Labour Opposition zufrieden zu stellen; entsprechend kommt ein energischer Gegenwind aus der eigenen Partei. Churchills impulsiver Ruf nach entschiedenem Widerstand gegen „Herrn Hitler“ missfällt nicht wenigen; Friedensverhandlungen mit Italiens Benito Mussolini als Verbindung zu Hitler stehen im Raum. Und ganz nebenbei soll die Bevölkerung gelenkt, nicht verängstigt, aber auch nicht getäuscht werden. Es sind zahlreiche Impulse und Handlungsstränge, die einander hin und wieder die Möglichkeit zur vollen Entfaltung nehmen.

© Universal Pictures

King George ist zunächst skeptisch gegenüber Churchill, noch eng vertraut mit dem zum Abdanken gezwungenen Vorgänger Chamberlain. Auch der König ist so ein Fall kultureller Prägung, haben wir doch höchstwahrscheinlich noch das Sprachtraining mit Colin Firth aus „The King’s Speech“ in Erinnerung und wissen ob der sprachlichen Barriere des Monarchen. Der Australier Ben Mendelsohn, für gewöhnlich auf Schurkenrollen abonniert, reduziert diese Barriere stark, nutzt wohlplatzierte Pausen und ein leichtes Lispeln, während Gary Oldmans Churchill in einem dominanten verbalen Grollen über ihn hinwegzieht. „Die dunkelste Stunde“ ist ein Film der Worte, oder wie Churchill selbst sagen würde: „WORTE!“ Durch drei Zentner Gummi gibt Gary Oldman einmal mehr eine überlebensgroße Performance, sieht seinem realen Vorbild gelegentlich erschreckend ähnlich und könnte einen Moment später auch der neue Lehrer in Verteidigung gegen die dunklen Künste in Hogwarts sein. Oldman ist unbestreitbar gut, Maske und Script tun ihm aber keinen Gefallen.

Ava DuVernays „Selma“ zeigte anschaulich, wie man Biographie und realhistorischen Film mit einem Fokus auf Sprache, Reden und Rhetorik umsetzen kann. „Darkest Hour“ versucht zweifellos Ähnliches, jedoch mit geringerem Erfolg. Wie Joe Wright zum Beispiel Texteinblendung nutzt, gibt uns schon einen ersten Eindruck, um was es hier eigentlich geht. Wieder und wieder sehen wir Lily James an der Schreibmaschine, hören Churchill nuschelnd formulieren, ehe das Kontrolllesen der Sekretärin mit dem direkten Vortrag des Premiers überlagert wird. Sekunden vor einer Live Ansprache im Radio tauscht Churchill noch einige Worte aus, feilt bis zuletzt an den Worten, mit denen er die Bevölkerung erreichen will. Ein einfaches „Niemals!“ kann im richtigen Kontext eine gleichermaßen intensive Reaktion auslösen, wie donnernde Sprache einer Rede, die bis heute als Meilensteil der politischen Rhetorik gilt. Aber wie war das noch mit dem Vakuum, in dem kein Film entstehen kann? Churchill beschwört die Kampfbereitschaft und den Widerstandswillen des Königreichs herauf, betont, dass die Grenzen des Reiches nicht auf den britischen Inseln beschränkt sind. Dass die globale Spannweite des britischen Empires selbst auf Gewalt und Unterdrückung gebaut ist, schwingt ungesagt immer mit, ohne, dass es adressiert wird. Ähnlich verhält es sich mit dem zuweilen brenzligen realhistorischen „Lebenswerk“ des echten Churchills. Zu lange wird der Plan von Chamberlain und Halifax euphemistisch „Friedensverhandlungen“ genannt, die uns der Film als schlechtere Alternative zu Churchills militaristischem Kampfgeschrei präsentieren will. Zu spät und zu zaghaft wird aus den Begriffen „Frieden“ und „Diplomatie“ etwas wie „Kapitulation“ und „Unterwerfung“. Das mag im Kontext des 2. Weltkriegs mit Hitler und Mussolini auf der Gegenseite nur richtig sein. Im Kontext des 21. Jahrhunderts, von Brexit, Trump, Putin und Isis ist diese begriffliche Inkonsistenz deutlich schwieriger. Kein Film entsteht in einem Vakuum.

Fazit:
Als Biographiefilm ist „Die dunkelste Stunde“ zeitlich erfreulich beschränkt und dadurch effektiver, bietet einige sehenswerte Momente. Dennoch ist die Handlung oftmals unfokussiert in Perspektive und Kontext. Ein interessanter, insgesamt aber nur durchschnittlicher Film, der Gary Oldman vermutlich seinen lange überfälligen Oscar einbringt.

6/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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