BG Kritik: „The Witch“

17. Mai 2016, Christian Westhus

Neuengland um 1630: Die Familie des streng religiösen William wird aus der Siedlung verbannt. Am Waldrand beginnen sie mit einer kleinen Farm einen Neuanfang. Doch in den Wäldern scheint sich eine böse Macht aufzuhalten, die sich schon bald den Jüngsten der fünf Kinder holt.

The Witch – Eine Volkssage aus Neuengland
(Originaltitel: The VVitch – A New-England Folktale | USA, UK, Kanada, Brasilien 2015)
Regie: Robert Eggers
Darsteller: Ralph Ineson, Anya Taylor-Joy, Kate Dickie, Harvey Scrimshaw
Kinostart Deutschland: 16. Mai 2016

Es sind die Großtaten eines Genres, die Fans regelmäßig auf die Probe stellen und in weit entfernte Lager spalten. In keinem Genre ist das häufiger der Fall als im Horrorfilm.

Ist „The VVitch“ (nur echt mit zwei „V“, der Einfachheit wegen aber mit „W“ geschrieben) überhaupt ein Horrorfilm? Es ist eine so irrelevante wie unvermeidbare Frage. Irrelevant, weil es geschätzt 3275 verschiedene Auffassungen gibt, was genau einen Horrorfilm ausmacht, und unvermeidbar, weil Robert Eggers‘ Spielfilmdebüt ohne Zweifel den Anschein eines klassischen Horrorfilms erweckt. Die weiterführende Frage ist folglich, welche Art von Horror uns in „The Witch“ bevorsteht. Das Genre befindet sich ständig im Wandel; noch immer sind Geister und nicht-körperliche Entitäten aus irgendwelchen Zwischendimensionen voll im Trend, doch die Trends vergangener Jahre sind nicht ausgestorben. Slasher, Splatter, Zombies und Konsorten warten im geneigten Fan nur darauf, endlich mal wieder an die Luft und raus zum Spielen gelassen zu werden.

„The Witch“ ist irgendwie … nichts von alledem. Wer Horror am liebsten im leise-leise-leise-laut-Modus eines „Paranormal Activity“ konsumiert und einen gelungenen Filmabend am Ende mit der quantitativen Aufzählung erfolgreicher Schocks und Erschrecker bewertet, für den dürfte die größte Angst bei „The Witch“ darin bestehen, sich womöglich zu Tode zu langweilen. Eggers nennt seinen Film nicht ohne Grund eine „Volkssage aus Neuengland“. Inspiriert von authentischen Schriften und Amtsdokumenten aus dem 17. Jahrhundert ist „The Witch“ mit seiner effektiv-kargen Ausstattung und nach heutigen Gesichtspunkten artifiziell historischen (und überwiegend gut synchronisierten) Sprache ein medialer Blick zurück auf eine halb vergessene Zeit. Der Horror von „The Witch“ nistet sich langsam im Zuschauer ein und sorgt weniger für sprunghaftes Entsetzen oder Nagelkauen, sondern für ein sich stetig steigerndes Unbehagen. Damit ähnelt der Film am ehesten Klassikern des Psychoterror-Horrors wie Kubricks „The Shining“ oder Polanskis „Rosemary’s Baby“.

© Universal Pictures

„Die Natur ist Satans Kirche“ – So formulierte es Charlotte Gainsbourg in Lars von Triers „Antichrist“. Robert Eggers scheint da ähnliche Ansichten zu haben. Schon nach wenigen Minuten nimmt er seiner „Volkssage“ jede Möglichkeit, den Schrecken der Wälder als psychologische Metapher und Einbildung der Protagonisten zu interpretieren. Die Hexe des Titels ist real und nicht zu Späßen aufgelegt. Ohne mit der Wimper zu zucken konfrontiert uns Eggers mit dem blutigen Schicksal des entführten Säuglings und stilisiert seine überwiegend natürlich ausgeleuchteten Bilder zu einem befremdlichen Albtraum. Erneut wie „Antichrist“ nutzt auch Eggers eine Tiersymbolik, um das satanische Wesen der Natur fühlbar zu machen. Da sitzt ein Hase still auf der Lichtung, eine Krähe steigt übers Dach und dann ist da noch der Schwarze Phillip, der heimische Ziegenbock und damit ganz klassisch ein Wirt des Fürsten der Finsternis.

Mehr noch als „Rosemary’s Baby“ ist „The Witch“ explizit ein Film über Macht und Ohnmacht von Religion. William wird aus dem geschützten Dorf nicht trotz, sondern vielmehr wegen seiner extremen Religiosität verbannt. Im Folgenden ist jedes dritte gesprochene Wort „Sünde“ und die Frage drängt sich auf, ob die böse Entität des Waldes eine gottgegebene Bestrafung der Sünder darstellt, oder ob sich die Familie durch übermäßige Gottesfürchtigkeit angreifbar macht. Die Ernte ist schwach, das Geld ist knapp und die Isolation treibt die beiden ältesten Kinder, beide im Prozess erwachsen zu werden, zu „sündigen“ Gedanken. Ganz zu Beginn sehen wir Thomasin, die Älteste, hervorragend gespielt von der Neuentdeckung Anya Taylor-Joy, bei der Beichte. Sie gesteht lässliche Sünden, sagt, das Gebet vernachlässigt und zumindest in Gedanken jedes der zehn Gebote gebrochen zu haben. Zwei Minuten später ist der Säugling aus der Aufsicht von Thomasin verschwunden und Eggers nötigt uns, in ihrer Beichte und dem Verschwinden des Jüngsten einen Zusammenhang zu sehen.

Kurz möchte man in Sorge verfallen, welch Weltsicht Eggers uns hier aufzwingt, wenn er die Sünden eines heranwachsenden Mädchens mit dem grässlichen Tod eines Säuglings durch die Hand einer weiblichen Dämonengestalt bestraft. Doch aus der historischen Dämonisierung der Frau wird im Film ein leiser Feminismus. Leben ist Sünde und jedes Unheil ist verdiente Bestrafung; Frauen kamen in einer solchen Welt seit jeher am schlechtesten weg. Das Verschwinden des Säuglings ist der eine aktive Eingriff des Fremden, der einen psychischen Kollaps in der Familie auslöst. Beladen mit Erbsünde, menschlichen Lastern und der angespannten Situation der Isolation frisst sich die Familie in ihrer wahnhaften Angst vor einer unreinen Seele und ewigen Höllenqualen selbst auf. Da man aus dem Dorf verbannt wurde, konnte der Säugling nicht getauft werden; ihn in der Hölle zu „wissen“ versetzt die Mutter in einen aggressiven Schock, was insbesondere Thomasin zu spüren bekommt. Diese lässt ihren Frust, vermeintlich unschuldig den Kopf hinhalten zu müssen, an den jungen Zwillingen aus, die befremdlich viel Zeit mit dem Schwarzen Phillip verbringen. Und Ziegenbock Phillip sagt, so geben es die Zwillinge weiter, Thomasin sei das Böse, die Hexe aus dem Wald. Diesen familiären Psychoterror treibt Eggers in seinem gekonnt inszenierten und mit einem wahnsinnigen Musikscore unterlegten Film auf die Spitze. Er erforscht die Existenzangst Gottesfürchtiger in der Isolation; daraus zieht „The Witch“ seinen thematischen Reiz und generiert eine selten gesehene Beklemmung, die man noch lange mit sich schleppt.

Fazit:
Thematisch dichter, formell faszinierender und durchweg spannender Psychoterror. Wer einen Zugang zu dieser speziellen Art des Horrors findet, dem steht einer der besten Genrefilme der letzten Jahre bevor.

9/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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