Treasure Tuesday Spezialkritik: Coraline (2009)

10. März 2020, Christian Westhus

Beim Treasure Tuesday stellen wir filmische Schätze vor, eben „treasures“. Filme, die vergessen wurden, nie den ganz großen Durchbruch hatten, zu alt oder zu fremdsprachig sind, um im vielfältigen Angebot unserer Tage herauszuragen. Auch zu Großvaters Zeiten gab es schon sehenswerte Filme, wie es auch in anderen Ländern sehenswerte Filme gibt. Heute schauen wir uns den Stop-Motion Film und die Neil Gaiman Adaption „Coraline“ an.

© Laika, Universal Pictures

Coraline
(USA 2009)
Regie: Henry Selick
US-Sprecher: Dakota Fanning, Teri Hatcher, Keith David u.a.
D-Sprecher: Luisa Wietzorek, Bettina Weiß, Reiner Schöne u.a.

Was ist das für ein Film?
Dieser Stop-Motion Animationsfilm nach einer Vorlage des großen und großartigen Neil Gaiman war der Startschuss für Studio Laika. Nach Teil- und Auftragsarbeiten u.a. für Tim Burtons „Corpse Bride“ war „Coraline“ 2009 der erste echte Laika Film. Filme wie „ParaNorman“, „Boxtrolls“, „Kubo, der tapfere Samurai“ und „Mister Link“ sollten folgen. Auffällig ist, dass die kreativen Masterminds von Studio Laika, insbesondere Travis Knight und Chris Butler, noch kaum beteiligt sind. „The Nightmare before Christmas“ Regisseur Henry Selick und Vorlagenautor Neil Gaiman trafen sich und brachten die Produktion in Gang, die für Studio Laika der Türöffner war. Die Zukunft des Studios würde zumeist mit hauseigenen Regisseuren und ohne literarische Vorlagen ablaufen. Hier war es noch anders. Nicht zuletzt deshalb ist „Coraline“ ein spannender Startpunkt für das junge Studio.

Die junge Coraline Jones zieht mit ihren Eltern in ein altes und renovierungsbedürftiges Landhaus, welches zum Mehrparteienhaus umfunktioniert wurde. Hier trifft Coraline auf kauzige und seltsame, aber auch auf sympathische Nachbarn, darunter der alte Artist Mr. Bobinsky, die beiden ehemaligen Varieté-Künstlerinnen Miss Spink und Miss Forcible, und Nachbarsjunge Wybie mit seiner Katze. Coralines Eltern bekommen von der Welt um sie herum und von Coralines Stimmung kaum etwas mit, denn sie sind voll und ganz in ihre Arbeit vertieft. Das verärgert und enttäuscht Coraline. Doch dann entdeckt sie eine geheime und verborgene Tür im Haus, durch die sie in einen Tunnel gelangt, der sie in eine fremde Welt führt, die ihrer Welt nachempfunden ist. Hier trifft sie auf Versionen ihrer Eltern mit Knopfaugen. Diese „Anderen Eltern“ und insbesondere die Andere Mutter („Other Mother“) haben in dieser Welt Zeit für Coraline, sind verspielt und aufmerksam, sind warmherzig und genau so, wie Coraline es sich wünscht. Doch schon bald stellt sich heraus, dass diese Traumwelt ein gefährlicher Albtraum ist, aus dem man nur schwer entkommen kann.

Warum sollte mich das interessieren?
Würde es nicht schon reichen, die Anfänge eines spannenden und qualitativ überdurchschnittlichen Animationsstudios zu erforschen, ist „Coraline“ durch seine Stop-Motion Animationstechnik mal wieder so ein Fall, um zu demonstrieren, dass Animation mehr sein kann als CG-Animation zwischen Disney, Pixar, Sony, Dreamworks und Illumination. Natürlich ist die Welt von „Coraline“ digital erweitert und zeitweise unterstützt, doch die greifbar reale Natur der Figuren und Umgebungen, die wunderbar unvollkommenen Bewegungen und die schiere Detailflut sind ein unschlagbares Argument dafür, dass man auch als Zuschauer sämtliche Facetten der Kunstform Animation ausprobieren sollte. Filme dieser Art werden rarer und rarer. Außer Laika und den Kollegen von Aardman; wer macht denn heute noch Stop Motion? Wer, außer die Japaner und gelegentliche internationale Independent Häuser, probiert sich denn noch an Handgezeichnetem?

Und ganz davon ab, ob „Coraline“ nun ein besonderer Fall für sein Studio oder für seine Kunstform ist, ist das Werk abseits dieser Äußerlichkeiten einfach ein wunderbarer Film. Nicht zuletzt durch die Grundlage von Neil Gaimans leichtfüßiger und weitreichender Fantasy entwickelt sich „Coraline“ zu einem erstaunlich komplexen Gruselmärchen für etwas ältere Kinder (oder für Erwachsene, die noch auf das innere Kind zugreifen können). Mutig ist nicht derjenige, der wild hervorprescht und sich komme-was-wolle ins Getümmel stürzt, sondern derjenige, der sich fürchtet und dennoch weitergeht. Das ist ein zentraler Punkt für Coraline Jones, deren abenteuerliche und auch enorm unterhaltsame Reise nicht zuletzt eine Auseinandersetzung mit eigenen Ängsten und Fehlern ist. Ideen rund um parallele Spiegelwelten, die irgendwie gleich und doch irgendwie anders sind, haben immerzu ihren Reiz. Doch eine so effektive, in Verhalten und insbesondere in ihrem Äußeren so unvergessliche Figur wie die Andere Mutter hat es dabei nur selten gegeben.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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