Treasure Tuesday Spezialkritik: „Night on Earth“

11. August 2020, Christian Westhus

Fünf Episoden in fünf Taxis in fünf Städten innerhalb einer Nacht. Jim Jarmusch verbringt mit uns eine „Night on Earth“ in unserem heutigen Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Arthaus

Night on Earth
(USA 1991)
Regie: Jim Jarmusch
Darsteller: Winona Ryder, Armin Mueller-Stahl, Isaach de Bankolé, Roberto Benigni, Matti Pellonpää

Was ist das für ein Film?
Kultiger Episodenfilm von Jim Jarmusch. Fünf Städte, fünf Taxis, eine Nacht. In Los Angeles kommt die junge und vorlaute Taxifahrerin Corky (Winona Ryder) mit einer angesehenen Filmagentin (Gena Rowlands) ins Gespräch. In New York hat der aus Ostdeutschland stammende Helmut (Armin Mueller-Stahl) Probleme mit dem Automatikgetriebe seines Taxis und lässt kurz darauf seinen ersten Fahrgast (Giancarlo Esposito) ans Steuer. In Paris hat der Taxifahrer (Isaach de Bankolé) Probleme mit Reaktionen auf seine Herkunft, holt sich daraufhin eine blinde Frau (Béatrice Dalle) ins Auto, die aber schlagfertiger ist als er glaubt. In Rom durchkurvt der ständig quasselnde Taxifahrer (Roberto Benigni) die engen Straßen der ewigen Stadt ohne Rücksicht auf Regeln, Polizei und Passanten, bis ausgerechnet ein Priester (Paolo Bonacelli) zu ihm ins Auto steigt, dem der Fahrer ohne Zurückhaltung seine wildesten Eskapaden beichtet. Und in Helsinki bringt Taxifahrer Mika (Matti Pellonpää) kurz vorm Morgengrauen drei Betrunkene nach Hause, mit denen er sich schon bald über das eigene schwere Schicksal austauscht.

Warum sollte mich das interessieren?
„Night on Earth“ ist vermutlich noch immer der beste Einstieg in die so wunderbare wie wundersame Filmwelt von Jim Jarmusch. Nicht zuletzt durch seine episodische Natur, aber auch durch seinen effektiven Stil- und Tonquerschnitt hat dieser Film gewisse Vorzüge als Einstiegspunkt in Jarmuschs Schaffen, die selbst populärere (relativ gesehen) Film wie „Dead Man“, „Ghost Dog“, „Broken Flowers“ oder „Only Lovers Left Alive“ nicht besitzen. Diese fünf Geschichten kombinieren all die Attribute, die man dem einzigartigen Schaffen des Regisseurs für gewöhnlich zuschreibt. Die entschleunigte lakonische Stimmung zieht sich durch (fast) alle Geschichten in „Night on Earth“, ist in L.A. etwas pfiffiger und flotter, in (der Highlightepisode) in New York herrlich komisch und in Paris feinfühlig-menschlich. Doch keine dieser Episoden verlässt sich auf ein einziges Attribut, auf eine einzige Stimmung. Melancholie und Wehmut ist in allen Erzählungen präsent. Besonders deutlich macht das Rom, wo Stadt und Taxifahrer ein gewisses Flair mitbringen, wo Roberto Benignis Erzählungen schon von Grund auf eine schräge Note tragen, durch den kirchlichen Zuhörer aber komplett ins Absurde kippen, ehe die Geschichte im Grotesken und Zynischen endet. Ehrlich menschliche Tragik umgibt ganz zentral die Helsinki-Episode, ehe sich sonderbar ironische und leise optimistische Töne untermischen, die es außer bei Jarmusch in der Form wohl nur bei Aki Kaurismäki finden lassen. Denn auch das durchzieht diese Filme, dass Cineast Jarmusch seine nächtliche kleine Reise für Referenzen an befreundete und/oder angesehene Regisseure nutzt, neben Kaurismäki ganz deutlich John Cassavetes in L.A. und Spike Lee in New York.

Man könnte kritisieren, dass Jarmuschs Vorstellung der „Erde“ nur von L.A. bis Helsinki reicht, doch er meint die Nacht des Titels wörtlich. Es ist dieselbe Nacht und derselbe Zeitpunkt in allen fünf Episoden; früher Abend in Los Angeles, späterer Abend in New York und tiefste Nacht oder frühester Morgen in Europa. Das ist allerdings kaum wirklich relevant. Script und Regie fahren die „in diesem magischen Moment passiert etwas Besonderes auf der Welt“ Ansätze quasi komplett herunter, reduziert auf fünf nebeneinander montierte Uhren. Und dennoch berühren und beeinflussen sich die Geschichten, die Figuren und die Stimmungen. Es sind fünf Episoden über Menschen nachts in Taxis, zwischen einem Punkt A und einem Punkt B, in einem Transitzustand und im Kurzkontakt mit anderen Menschen, mit „portionierten Freunden“, wie ein gewisser Seifenverkäufer sagen würde. Es ist die Intimität dieser Begegnung fremder Menschen im begrenzten Raum eines Taxis, die diese Situation so spannend, witzig und auf vielfältige Weise faszinierend macht. Und da „Night on Earth“ aus fünf artverwandten und doch unterschiedlichen filmischen Happen in gut goutierbarer Größe besteht, ist es nicht nur ein wunderbarer Film an sich, sondern eben auch der ideale Erstkontakt mit einem Unikat des US-Kinos.

„Night on Earth“ ist auf DVD/BD erhältlich und aktuell bei den meisten Anbietern digital leih- und kaufbar.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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