BG Kritik: „Alice im Wunderland“
ALICE IN WONDERLAND (2010)
Regie: Tim Burton
Cast: Mia Wasikowska, Johnny Depp
Story:
Alice (Mia Wasikowska) leidet schon ihr ganzes Leben lang an wirren Träumen. Als sie eines Tages an einen uncharismatischen Fremden verheiratet werden soll, stürzt sie wortwörtlich in ein tiefes Loch – und landet, davon überzeugt wieder eingeschlafen zu sein, im Wunderland. Dort angekommen, erzählt man dem verwunderten Mädchen, dass sie schon einmal da gewesen sei und nun eine Prophezeiung erfüllen müsse. Sie soll einer drachenähnlichen Kreatur namens Jabberwocky den Garaus machen…
Kritik:
Tim Burton, Herr des herrlich Abnormen. Denkt man an ausgefallenes, aus der Norm tretendes Kino, ist Tim Burton der bekannteste Filmemacher seiner Zunft. „Edward mit den Scherenhänden“, „Beetlejuice“, „Charlie und die Schokoladenfabrik“, „Sweeney Todd – Der teuflische Barbier aus der Fleet Street“, „Sleepy Hollow“ (nein, typische Verwechslung: „Nightmare before Christmas“ ist kein Burton, den schrieb er nur), paperlapapp, Burton ist der typische go-to Guy für aufwendig skurilles Mainstreamkino. Dass der gute Mann irgendwann einmal die wohl schrägste bekannte Kinderliteratur eines ebenso schrägen wie legendären Autoren verfilmen würde, war demnach lediglich keine Frage des „obs“, nur des „wanns“. Als die Bestätigung dann kam, war auch wohl jedem klar, wer den verrückten Hutmacher spielen würde.
Wer sich die burtonsche Entwicklung der letzten Jahre angesehen hat, der weiß vermutlich recht genau, was ihn im 3D Wunderland erwartet. Stilistisch, schauspielerisch, klanglich, aber qualitativ? „Alice im Wunderland“ ist Burtons wahrscheinlich schwächster Live-Action Film seit fünfzehn Jahren.
Als Lewis Carroll seine kleine Geschichte vor rund 150 Jahren veröffentlichte, sollte es eine bezaubernde Märchengeschichte sein, die in eine unglaubliche, faszinierende Welt entführt, absurde, aber sympathische Figuren vorstellt und Alice und den Leser ein unvergessliches Abenteuer erleben lässt. Gerade letzteres wird auf Burtons neuesten nur schwerlich zutreffen, da seine Erzählung der Geschichte sich tatsächlich nur geringfügig für sich verbuchen kann, etwas wirklich Besonderes zu sein.
Hauptangelpunkt des Films und des Marketings versucht einmal mehr Johnny Depp zu sein, der zum siebten Mal mit Burton zusammenarbeitet und erneut als bizarre Phantastenschöpfung auftritt. Problematisch nur, dass sein Charakter des lispelnden Hutmachers viel zu wenig Zucker im Tee hat. In einem Versuch, den Hutmacher mehr sein zu lassen als er eigentlich ist, überlegten sich Depp und Burton der Figur eine tragische Vorgeschichte zu verpassen. Der Mad Hatter ist dadurch keine absurde dadaistische Wunderlandfigur mehr, sondern eine recht ruhige, menschliche Gestalt, die abgesehen vom explodierten Farbkastenoutfit fürchterlich normal bleibt. In einem Flashback wird die Entstehung seines (leichten) Wahnsinns sogar gezeigt, was aufrichtige Kenner der Vorlage wutentbrannt mit Flamingos golfen lässt. Durch seine rationalen, vermenschlichten Erklärungen raubt Burton seiner eigenen Fantasie an Kraft und das findet sich auch im Rest wieder. Der Film, der von einer plumpen, absehbaren Rahmenhandlung in der Welt der echten Menschen umgeben ist (die Fantasiehandlung sieht sich als Gedankenentwicklung des Mädchens, die nach ihrem Abenteuer gereift ist), schmeißt sich zwar munter ins Getümmel und präsentiert quietschbunte Burgen, sprechende Tiere und Kunterbuntgestalten (angenehm: endlich ist mal nicht alles gothic schwarz, aber wer genau hinsieht, sieht auch hier und da wieder dieselben typischen Streifen- und Kringelmuster) mit kleineren Actionsequenzen, aber auch technisch hält sich die Begeisterung in einem drohenden Vertigo.
Die Optik des Wunderlands pendelt. Pendelt zwischen Prise Akzeptanz und grobem Cartoonkaugummi. Das Wunderland wird nie zur glaubhaften, anfassbaren Welt, eher zur Fabel-Variante eines „Speed Racers“ und auch wenn es aufwendig gemacht ist, hat es einen eklatant künstlichen Computer-Look, der über das Budget (150 Millionen Dollar, angeblich sogar 250 Millionen Dollar) staunen lässt, und das nicht unbedingt im Guten. Die fliegende, sprechende Grinsekatze beispielsweise bleibt als wohl auffälligste, sympathischste Figur des ganzen Films im knappen Kurzzeitgedächtnis, ist aber nicht mehr als ein Texturencousin von CGI-„Garfield“. Die sprechende Maus könnte auch aus „Narnia 2“ kommen und auch „Chipmunks“, die „G-Force“ und „Scooby-Doo“ würden effektqualitativ überhaupt nichts an Burtons Werk mindern. Erschreckend.
Dasselbe lässt sich auch über die anderen Figuren sagen, wobei vor allem die pummeligen Bowlingkugelkörperbrüder Tweedledee und Tweedledum grässlich unecht aussehen. Viel grässlicher ist das Verbrechen, Wunderland wie keine echte eigene Welt wirken zu lassen. Abgesehen von den wichtigen Story-Figuren gibt es keine Anzeichen auf eine atmende, lebende Welt, der Großteil der Geschichte spielt entweder im simpel aussehenden Schloss der Herzkönigin oder im relativ leeren Außenland. Als man Alice dann anfleht, sich kämpferisch für das Überleben der Guten einzusetzen, fehlt das Drama, da sich die dramatische Rettung nur auf einige wenige reduziert, die ohnehin alle verrückt (und laut Alices Eigenglaube ohnehin nur Traumelemente) sind.
Das ist der schlimmste Fehler Burtons. Anstatt auf echte Wunder zu setzen, staucht er das Geschehen auf eine ernste, klassische Musterstory (Alice muss sogar einen Endgegner besiegen), die aufgrund schwacher Zusammensetzung und leerer Figuren unfähig bleibt, zu packen oder berühren. Gänzlich auf der Strecke bleibt auch der Humor, womit Alices 105-Minuten Abenteuer höchstens ein laues „Aha.“ weckt.
Mia Wasikowska ist eine tolle Darstellerwahl, allerdings trifft auch sie teilweise Entscheidungen, die nicht sitzen wollen. Sei es zu regungslose Verwunderung bei Kontakt mit Fantasiewesen, sei es fehlende Motivation, Freunde zu retten, sei es fehlende Klarheit, die Wichtigkeit ihrer Freunde klar zu positionieren. Man glaubt keine Sekunde, dass sie von der wunderbaren Welt des Wunderlands überrascht ist, dass sie ihr Leben je in Gefahr sieht, sich je ernsthaft um einen der hiesigen Chipmunk-Kohorten sorgen könnte. Natürlich transportiert sich dies von der Leinwand herunter und enttäuscht. Anne Hathaway als erweißter „Plötzlich Prinzessin“ Tribut und Helena Bonham-Carter mit überdimensionalem Kopf sind beiderseits gut, während Profi-Irrer Crispin Glover als phrasendreschender Handlanger in jedem einzelnen seiner Momente mit penetrantem Overacting stört. Klanglich hat sich Burton einmal mehr seinen Blutsbruder Danny Elfman ins Boot geholt, der zum Glück wie gewohnt, wenn auch auffällig charakterlos in die Tasten drischt und sich zumindest lau selbst imitiert, statt dem Soundtrack dem Vorzug zu lassen. Teilweise gab es ja Gerüchte, der Soundtrack würde den ganzen Film bedecken, aber die junge Ms Lavigne erklingt so erst im Abspann. Nun ist ein schwacher Burton immer noch ein akzeptabler Film, allerdings eine Enttäuschung, denkt man darüber nach, was man mit allen Mitteln hätte machen, besser machen können. Als Erlebnis könnte der Film kraftvoller sein, schräger, ausgefallener, gewagter, prägnanter. Er könnte glaubhafter wirken oder sich ernsthaft auf seinen Dramenanspruch beziehen und Alices Wunderlandreise als faszinierendes Reifemotiv konstruieren. Es bleibt das saure Gefühl, dass hier nicht alle mit vollem Elan bei der Sache waren.
Fazit:
Disney’s Alice ist ein kompetent gemachter kunterbunter Fantasyspaß, verliert aber die interessanten Elemente der Buchvorlage. Im Burton-Universum wirkt der Wunderland-Wahnsinn erstaunlich gewöhnlich, und Alices Trip den Kaninchenbau hinunter ist in erster Linie farbenfroh und actionreich, aber nie wirklich aufregend, lustig oder bewegend. Das kann man sich gut ansehen, doch bei den Talenten hätte es dann doch auch mehr sein dürfen.
5 / 10
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