Treasure Tuesday Spezialkritik: „Belladonna of Sadness“

13. Juli 2021, Christian Westhus

Ein einzigartiges Experiment des japanischen Animationskinos. Der stilistisch einzigartige und im besten Sinne seltsame „Belladonna of Sadness“ (1973) von Eiichi Yamamoto, unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Rapid Eye Movies

Belladonna of Sadness (auch: Die Tragödie der Belladonna)
(Originaltitel: Kanashimi no beradonna/哀しみのベラドンナ | Japan 1973)
Regie: Eiichi Yamamoto
Originalsprecher: Aiko Nagayama, Katsutaka Itō, Tatsuya Nakadai
Veröffentlichung Deutschland: Juni 1973 (Berlinale), 25. November 2016 (DVD/BD)

Was ist das für ein Film?
Japanische Animation einmal anders. Ganz anders. Produzent Osamu Tezuka wollte sich und dem Publikum beweisen, dass Animation nicht zwangsläufig für Kinder sein muss. So konzipierte er die Animera-Trilogie, dessen berühmtester Ableger „Belladonna of Sadness“ ist. Drei Filme, die ihre in der Regel durch internationale Erzählungen und Historienstoffe inspirierten Geschichten erotisch bis brutal färbten und künstlerisch nachstellten. „Belladonna“, vage basierend auf einem Traktat über Hexenleben von 1862, erzählt die Geschichte von Jeanne und ihren Leiden. Jeanne und Jean haben gerade geheiratet, als der Baron und weitere Adlige die „Brautsteuer“ einfordern. Ehemann Jean will das an seiner Frau verübte Leid und Unrecht ignorieren, einfach weiterleben, so gut es geht. Da erscheint Jeanne ein kleiner Teufel, der ihr die Möglichkeit auf Rache und Erfolg eröffnet. Ohne es wirklich zu wollen – aber auch ohne es entschlossen abzulehnen – erhält Jeanne einen erfolgreichen neuen Beruf, erhält Geld und dadurch Macht. Doch dem Baron und der Baronin ist Jeanne dadurch ein Dorn im Auge. Und der Teufel ist noch nicht am Ende seiner List.

Warum sollte mich das interessieren?
Dass Animation mehr sein kann als Kinderunterhaltung ist heute keine neue und erst recht keine schockierende Erkenntnis. Von erwachsenen Dramen, über brutale Action bis hin zu Pornographie gibt es im Animationsbereich mehr oder weniger alles. So etwas wie „Belladonna of Sadness“ dürfte man dennoch nicht so schnell ein weiteres Mal finden. Die tragisch-pessimistische Geschichte der jungen Jeanne, die mitunter unerwartet drollige und verspielt „erotische“ Töne anschlägt, ist eine seltsame Mixtur aus semi-historischer Mittelaltererzählung und metaphorischem Parabeleinschlag, mit einer großen Prise 1970er Hippie-/Avantgarde-Attitüde. Das wäre an sich schon sonderbar, als Animationsfilm aus Japan ganz besonders.

Denn wirklich „japanisch“ sieht dieser Film nicht aus, der sich an europäischer Kunst orientiert. „Belladonna of Sadness“ sieht zuweilen aus, als wollten Gustav Klimt und Egon Schiele ihre ganz eigene Version vom Beatles-Film „Yellow Submarine“ kreieren. Dünne Führlinien, verzerrte Perspektiven und Proportionen, unsaubere Bewegungen, dazu kräftige Farbakzente aus verlaufenen Aquarelltönen aus dem Pastellbereich, wenn nicht gerade Blutrot und Nachtschwarz über die Szenerie hereinbrechen. Knapp die Hälfte des Films ist nicht wirklich animiert, nicht im eigentlichen Sinn. Es sind Einzelbilder, über die eine bewegte Kamera Leben vorgibt. Das ist in den Erzählsequenzen ein sicherlich gewolltes – oder zumindest treffendes – Stilelement, in anderen Szenen mitunter irritierend. Regisseur Eiichi Yamamoto sprach von einem „Flickwerk“, dem das nötige Budget fehlte. Dennoch leistet dieses vermeintliche Flickwerk Gewaltiges.

Die Gestaltung alleine macht „Belladonna of Sadness“ schon sehenswert, doch auch mit bescheidenen Mitteln weiß Yamamoto, wie man Bilder entwirft, arrangiert und in einen Kontext stellt. So ist die sexuelle Gewalt zu Beginn bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert, ein Chaos aus Linien und Farben, und dennoch markerschütternd. Begleitet von einem unverkennbar „70er“ Psychedelic-Prog-Score von Masahiko Satō, ist die eigentliche Geschichte in Form und Funktion simpel, wie es für die spätmittelalterliche Verbindung passend ist. Erst auf den letzten Metern versucht „Belladonna of Sadness“ eine beinahe postmodern anmutende „ach, übrigens“ Lesart beizufügen. Dieser Kommentar ist streitbar und angesichts der Höhen und zahlreichen Tiefen dieser Geschichte vielleicht überambitioniert, pendelt der Film doch immerzu zwischen Sozialkritik und Sexploitation. Doch es passt zu diesem einfallsreichen Experiment, zu einem Film, dessen vom großen Tatsuya Nakadai gesprochener Teufel wahlweise ein kleiner glatzköpfiger Mann im langem Umhang oder eben ein lebender Phallus ist.

Als VOD und DVD/BD/UHD erhältlich. Aktuell bei Realeyz und Sooner im Abo verfügbar.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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