Treasure Tuesday Spezialkritik: Martha Marcy May Marlene (2011)

16. Juni 2020, Christian Westhus

Gemeinsam neue Filme entdecken. Zum Beispiel einen der ausgewählten Schätze, die wir wöchentlich beim Treasure Tuesday vorstellen. Vergessene Filme, unterschätzte Filme, alte Filme, fremdsprachige Filme. Filme die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht. Heute schauen wir den spannenden Indie-Thriller, mit dem Scarlet Witch Elizabeth Olsen ihre Filmkarriere ins Rollen brachte: Martha Marcy May Marlene (2011)

© 20th Century Fox Home Entertainment

Martha Marcy May Marlene
(USA 2011)
Regie: Sean Durkin
Darsteller: Elizabeth Olsen, John Hawkes, Sarah Paulson u.a.

Was ist das für ein Film?
Die komplizierte Flucht aus und vor einer Sekte. Irgendwie gelingt es Martha (Elizabeth Olsen), auszusteigen. Irgendwie kann sie der sonderbaren Kommune, die unter Anführer Patrick (John Hawkes) abgelegen und autark in den Catskill Mountains in Connecticut lebt, den Rücken zukehren und entkommen. In der Gruppe wurde sie Marcy May genannt, doch nun kehrt sie als Martha zurück zu ihrer Schwester (Sarah Paulson) und versucht zurück ins Leben zu finden. Doch die Einflüsse der Gruppe lassen sich ebenso schwierig abschütteln wie deren Mitglieder. Marthas Psyche ist beschädigt, durch jahrlange Gewalt, Isolation und Konditionierung aus den Fugen geraten. Während sie sich an ihre Zeit in der Sekte erinnert, schlägt sie im Leben ihrer Schwester turbulent und folgenschwer auf. Das Wiedersehen der Geschwister ist keine grenzenlose Erleichterung nach überstandenem Trauma, sondern ein komplizierter Balanceakt. Und immer wieder stellt sich für Martha die Frage: könnten Patrick und die ehemaligen Kameraden sie hier finden? Und wünscht sich Marcy May vielleicht genau das?

Warum sollte mich das interessieren?
Hey, Regisseur Sean Durkin hat nach gut neun Jahren endlich einen neuen Film fertig, der in naher Zukunft irgendwie sein Publikum finden soll. Während wir also auf „The Nest“ warten lohnt es sich, zu Durkins verdammt spannendem Spielfilmdebüt zurückzukehren. Durkin war Teil der Produktionsfirma Borderline Films, zusammen mit Antonio Campos und Josh Mond. Die drei Indiefilmer agierten zusammen als Mini-Studio, sind Autoren, Regisseure und fungierten als Produzenten beim jeweiligen Kollegen. „Martha Marcy May Marlene“ war im bescheidenen Rahmen ein ordentlicher Erfolg und besitzt vermutlich bis heute den größten Bekanntheitsgrad und Status im Oeuvre von Borderline Films, die mit „After School“, „Simon Killer“, „Christine“ und „James White“ spannend-verkopfte und gelegentlich mit Genreversatzstücken durchzogene Indies der etwas anderen Art hervorgebracht haben, die es kennenzulernen gilt.
Doch nicht nur für den jungen Regisseur war es ein Debüt, sondern auch Hauptdarstellerin Elizabeth Olsen, die dritte Olsen Schwester, die heute berühmtes Avengers Mitglied ist, wagte mit diesem Film den Start ihrer etwas anders gelagerten Filmkarriere im Vergleich zu ihren berühmten Schwestern. Ja, selbst Sarah Paulsons verspäteter Durchbruch als Dauerbesetzung in „American Horror Story“ stand damals gerade erst in den Startlöchern.

„MMMM“ ist der spannende und vielschichtige Versuch, die Psychologie von Sekten, Kulten und Aussteigergruppierungen nachzustellen und zu erforschen. Durkins Script reduziert Politik und Ideologie der Gruppe, um sich ganz auf die zwischenmenschlichen Unterdrückungs- und Manipulationsmethoden zu konzentrieren. Durch die rückblickende Erzählweise sind wir einerseits nah, aber distanziert genug, um die Methodik von Ersatz-Charles Manson und die Wirkung bei Marcy May zu verfolgen. Charme, Kollegialität und das vermeintlich Ideal „echter“ Freiheit wird Zug um Zug erweitert mit dem Zwang zu offener Sexualität, gelegentlicher Gewalt, Grenzüberschreitung und dem „Wissen“ um die Unfehlbarkeit von Anführer Patrick. Dass es bei aller Theorie dennoch ungemein packend, ungemütlich und emotional zugeht, ist einerseits Leistung des kompakten und ungewöhnlichen Scripts, welches ganz bewusst vermeidet, jemals ein wirklicher Thriller zu werden, und ist anderseits Verdienst der grandiosen Darsteller. John Hawkes gefährliches Charisma erinnert an seine ähnliche und doch anders geartete Rolle in „Winter’s Bone“. Doch es ist Elizabeth Olsens mutiges, intensives und intelligent herausgestelltes Spiel, welches diesen Film dominiert und so spannend macht.

Du willst noch mehr spezielle Geheimtipps und Filmempfehlungen? Die gesammelten Treasure Tuesday und ältere Treasure Monday Rezensionen gibt es hier!

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

Um an dieser Diskussion teilzunehmen, registriere dich bitte im Forum:
Zur Registrierung