Treasure Tuesday Spezialkritik: „Der phantastische Planet“

1. September 2020, Christian Westhus

Bizarre Animationsmetaphorik im Sci-Fi/Fantasy Kultfilm „Der phantastische Planet“ (1973), unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Argos Film, Alive AG

Der phantastische Planet (auch: Der wilde Planet)
(Originaltitel: La planète sauvage | Frankreich, Tschechoslowakei 1973)
Regie: René Laloux

Was ist das für ein Film?
Ein Animationsklassiker der sonderbaren Sorte, fernab stilistischer Standards. Nach dem Roman „Oms en série“ von Pierre Pairault (alias Stefan Wul) führt uns Regisseur René Laloux auf den fernen Planeten Ygam. Hier sind die Draag die dominante Spezies, mit ihre hohen Statur, dem aufrechten Gang, der blauen Haut und den roten Augen. Auf Ygam leben aber auch die Oms, augenscheinlich Menschen, doch ausgewachsen nur in etwa so groß wie eine Draag-Hand. Das junge Draag-Mädchen Tiwa nimmt den kleinen Om-Jungen Terr in ihre Obhut, nachdem dessen Mutter beim „Spielen“ durch Draags getötet wurde. Tiwa mag ihren kleinen Om. Sie mag ihn, so wie wir vielleicht einen Hamster mögen. Auch für die Eltern ist das kleine Geschöpf nur ein lästiges Haustier oder ein störendes Spielzeug, aber da Tiwa noch jung ist, darf sie Terr behalten. Immerhin trägt der kleine Om einen Halsring, mit dem das Draag-Mädchen aus der Ferne Kontrolle ausüben kann. Doch durch die Nähe der beiden erlernt Terr die Sprache der Draag, bekommt Draag-Wissen vermittelt und kann mit einer potentiell weitreichenden Draag-Technologie irgendwann entkommen, um die freien Oms zu erreichen, die „wilden“ Oms, wie es Draags formulieren würden.

Warum sollte mich das interessieren?
Animation ist grenzenlos. In Inhalt, Form und Zielgruppe kann es in alle nur vorstellbaren Richtungen gehen. „Der wilde Planet“ (oder auch „Der phantastische Planet“) räumt zuallererst mit dem Vorurteil auf, Animation richte sich immer auch an Kinder. Doch weit gefehlt. Sicherlich ist der Film kein vor Blut, Gewalt und Sex triefendes Ungetüm, doch die abstrakte Handlung, die komplexen Ideen und die bizarre Bildsprache machen „Der wilde Planet“ nicht unbedingt zu einem Film für die Jüngsten. Dass es sowohl Oms als auch Draags mit Bekleidung nicht ganz so genau nehmen, ist dabei das kleinste Problem.

Die Animation ist technisch gesehen recht statisch, sowohl in den Bewegungen als auch in der Bildwiederholfrequenz. Doch das wird wettgemacht durch die Bilder selbst, durch den schieren gestalterischen Einfallsreichtum. Es ist reinstes Psychedelia, noch verstärkt durch die spärlichen Dialoge und insbesondere durch den Prog- und Psychedelic-inspirierten Score. Nicht selten erinnert ein Moment an die animierten Monty Python Sequenzen von Terry Gilliam, nur dass der absurdistische Humor hier einer äußerst direkten Metaphorik weicht. Die Romanvorlage stammt aus den 1950ern, der Film aus den 70ern. Schon daraus lassen sich mindestens zwei Lesarten ableiten, wie man die Vorgänge auf Ygam interpretieren könnte.

Trotz ihrer aufrechten Gangart und ihrer humanoiden Körperform mit Kopf, zwei Armen, Torso und zwei Beinen sind die Draags eine absolut bizarre Spezies mit Sitten, Bräuchen, Technologie und Objekten, die der Om’sche (oder auch menschliche) Verstand nicht übersetzen kann. Wenn es dann doch eine 1:1 Entsprechung gibt, dann aus gutem Grund, nämlich um einen unmissverständlichen Punkt zu machen. Wie ein Ameisenbär Ameisen aus einem Bau schleckt, holt sich ein geflügeltes „Monstrum“ mit seiner langen Zunge reihenweise Oms aus einem Versteck. Doch mit Terrs gestohlener Draag-Technik können die Oms lernen, sich weiterentwickeln. Und bei den Draags debattiert man über die potentielle Ausrottung der Oms, eine De-Omiserung oder auch – in der unvermeidlichen Erstinterpretation – den Om-Holocaust. Die Oms werden wie Vieh oder Haustiere betrachtet, wie Insekten, deren Siedlung man mit Füßen zertrümmert. Doch die Oms sind für den Zuschauer eben auch ganz eindeutig Menschen, sind Sklaven, eine niedere Sub-Spezies und können daher vielseitig gelesen werden. All dies greift der Film durch seine groteske Bildsprache auf, lässt aber auch problemlos zu, einfach einem einzigartig bizarren Abenteuer in einer fremden Welt beizuwohnen.

„Der phantastische Planet“ ist aktuell bei Mubi im Stream guckbar, bei mehreren Plattformen digital leih- und kaufbar und als „Der wilde Planet“ als Blu-ray erhältlich.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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