BG Kritik: „Alles steht Kopf“ (Inside Out)

3. April 2019, Christian Westhus

Ein neues Pixar Meisterwerk? Wie jeder Mensch wird auch die 11-jährige Riley von ihren als lebendig auftretenden Emotionen geleitet, die in ihrem Kopf leben. Freude, Kummer, Angst, Ekel und Wut drücken die Knöpfe und legen Schalter um, die Riley zu dem Menschen machen, der sie ist. Doch als Rileys Familie umzieht, ist die Situation für Rileys Gefühle nicht einfach. Nach einem Zwischenfall mit Kummer entsteht eine Notsituation, um Riley in dieser einschneidenden Phase zu retten.

Alles steht Kopf
(Originaltitel: Inside Out | USA 2015)
Regie: Pete Docter, Ronaldo del Carmen
US-Sprecher: Amy Poehler, Phyllis Smith, Bill Hader, Kaitlyn Dias
D-Sprecher: Nana Spier, Philine Peters-Arnolds, Olaf Schubert, Vivien Gilbert
Kinostart Deutschland: 01. Oktober 2015

(Diese Kritik erschien ursprünglich zum Kinostart des Films im September/Oktober 2015.)

Die Pixar Animationsstudios waren einmal unantastbar. Nach originellen und großartigen Hits wie „Findet Nemo“, „Ratatouille“, „Monster AG“ und „Wall-E“ brachte man es sogar fertig, die „Toy Story“ Reihe mit jedem neuen Teil noch einmal sehenswert werden lassen und in Teil 3 einen fantastischen – man möchte sagen „perfekten“ – Abschluss zu servieren. Doch die qualitativ zweitklassigen „Cars“ Filme, der „nur“ gute „Merida“, eine unnötige Vorgeschichten-Fortsetzung zu „Monster AG“ und angekündigte Fortsetzungen zu Nemo, sowie der Fortführung der „Toy Story“ Reihe generierten Zweifel, die noch vor ein paar Jahren undenkbar schienen. Mit Kampfkunst Pandabären und Drachenreitern hat die Konkurrenz von Dreamworks inzwischen mehr als ein vergleichbar beliebtes Eisen im Feuer. Doch gerade jetzt, als Pixars Stern an Strahlkraft einbüßt und man sich damit abfindet, dass dort auch nur Menschen am Werk sind, keine unfehlbaren Zauberer, kommt „Alles steht Kopf“ in die Kinos. Nachdem 2014 der seltene Fall eines Kinojahres ohne Pixar-Film war, ist „Alles steht Kopf“ nun die willkommene Erinnerung daran, warum das Studio überhaupt diesen Status als Animationsmagier trug. Pixar-Filme können in ihren besten Fällen mehr sein als herzliche Familienabenteuer in technischer Perfektion. Im Bereich der großbudgetierten US-Animation legt sich sonst kaum jemand die Hürden so hoch, wagt so weit zu gehen und derartige Bereiche auszuloten. „Alles steht Kopf“ ist ein neues Meisterwerk, würdig auf einer Stufe mit Nemo, Wall-E, Buzz und Woody.

Der Weg zu diesem neuen Schatz im Pixar Fundus ist allerdings schwierig, denn zuerst steht der Vorfilm „Lava“ an, die vielleicht abscheulichsten fünf Minuten, die jemals unter dem Pixar Banner das Licht der Leinwand erblickten. Doch so wirklich gehört „Lava“ nicht zum Film und kann – und sollte – daher schnellst möglich vergessen werden. „Alles steht Kopf“ präsentiert ein wahnsinnig originelles Grundkonzept, welches zwar in ähnlicher Form in einer eigentlich längst vergessenen 90er Jahre Sitcom auftauchte („Herman’s Head“), mit dem man sich als Geschichtenerzähler aber auch eine Menge aufhalst. Angeführt von den fünf Kernemotionen Freude, Kummer, Angst, Ekel und Wut (die auch in der deutschen Synchro wunderbar besetzt sind) lernen wir das Innenleben von Menschen bzw. von Hauptfigur Riley als herrlich bunte und abstrakte Welt eines clever entworfenen Mikrokosmos kennen. Die fünf Emotionen walten in der Hauptzentrale, sortieren nach Emotionen kodierte Erinnerungen, treffen Entscheidungen, während sich unter ihnen die Persönlichkeit der 11-jährigen Riley als schier endloses Land mit Persönlichkeitsinseln, Unterbewusstseinshöhlen, einer Filmstudio-artigen „Traumfabrik“ und dem Abgrund des Vergessens erstreckt.

© Disney / Pixar

Es dauert keine zwei Minuten, da läuft es dem Zuschauer schon eiskalt des Rücken herunter und steigt sodann wärmend in die Wangen, wenn wir Riley als Neugeborenes sehen, in ihren Kopf blicken, wo aus einem Licht die erste Emotion entsteht, die nach einem Knopfdruck eine Reaktion auslöst; bei Riley und bei uns. Emotionen in „Alles steht Kopf“ sind fast immer etwas Mechanisches; wir sehen Riley mit betretener Miene am Tisch sitzen, hören ein strafendes Wort des Vaters und sehen, wie die feuerrote, sofa-flauschige Verkörperung von Wut mit flammendem Kopf die Hände an die Schalter legt, um Riley zu einer wütenden Reaktion zu bringen. In gewisser Weise werden wir non-stop an die Hand genommen, wird uns mitgeteilt, was und wie wir zu fühlen haben. Doch hinter dieser mechanischen Emotionalität steckt die Genialität des Pixar’schen Uhrwerks, denn so sehr die Zahnrädchen und Mechanismen auch klar und offensichtlich an der Oberfläche liegen, so ist doch jede Emotion mit einer Feinfühligkeit und Ehrlichkeit eingeführt und etabliert, die man auch bei Pixar nicht jeden Tag bekommt. Die fünf Emotionen sind nicht einfach nur wuselige Figuren, die im Kopf ihres Menschen Chaos anrichten oder dieses zu beherrschen versuchen. Wenn Kummer eine Erinnerung aus Neugierde berührt und diese ehemals fröhliche Erinnerung in Kummerblau färbt, wissen wir genau was passiert. Wir wissen, wie sich das anfühlt, wenn wir aus verändertem Kontext auf etwas Vergangenes blicken, auf die Freuden der Vergangenheit, die uns aus einer Vielzahl von Gründen nun unerreichbar scheinen. Wir wissen, wie aus Freude Nostalgie und wie aus Nostalgie Wehmut wird. Riley weiß dies noch nicht.

Darin liegt vielleicht der bemerkenswerteste Zug dieses Films, dass Pete Docter und Co-Regisseur Ronaldo del Carmen einen Film gemacht haben, der der üblichen Pixar-Zielgruppe eine Menge abfordert. Wenn Freude und Kummer durch Rileys Persönlichkeitswelt irren, auf der Suche nach einer Erinnerung und einem Weg zurück in die Kommandozentrale, wo Angst, Wut und Ekel auf sich alleingestellt sind, gibt es allerhand turbulentes Chaos, mit viel Witz und Abenteuerspaß, mit originellen Einfällen, mit Tempo und Spannung. Doch das Grundkonzept erfordert in gewisser Weise eine Art Lebensweisheit, die den Allerkleinsten, die mit Dory und Marlin in höchster Entzückung Nemo gesucht haben, vielleicht noch fehlt. Das Drehbuch befasst sich so entwaffnend real und menschlich mit seiner jungen Hauptfigur, dass man regelmäßig überwältigt dasitzt. Unter einer anderen Führung hätte man aus diesem Konzept schnell einen schrillen Pubertätsradau machen können, doch die Pubertät ist hier nur eine ominöse Ahnung der Zukunft und ein brillanter kleiner Gag. Das Problem, mit dem Riley sich konfrontiert sieht, ist konkreter, spezieller und dadurch wirkungsvoller. Wenn in der Persönlichkeitswelt Inseln abstürzen und wegbrechen bangen wir nicht nur um Freude und Kummer, die mittendrin statt nur dabei sind, sondern auch um Riley, die diese Verschiebung von Gefühlswelten tatsächlich erlebt. Diese Abstraktion aus Innen- und Außenwelt gelingt auf meisterhafte Art und Weise und führt mit viel Spaß, noch mehr Herz und einigen wohlverdienten Tränen zum mustergültig inszenierten Abschluss. Peter Docter und Pixar haben die Hürde ihrer eigenen großen Ambitionen gekonnt genommen. Nur über ein paar Designdetails müsste man vielleicht noch sprechen.

Fazit:
Ein neues Pixar Meisterwerk. Ein hochambitioniertes Konzept in großartiges Umsetzung. Wunderbar emotional, witzig, hochgradig unterhaltsam und wahnsinnig clever.

9/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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