BG TV-Kritik: „Spuk in Bly Manor“

17. Oktober 2020, Christian Westhus

Nach „Spuk in Hill House“ gibt es bei Netflix nun „Spuk in Bly Manor“. Serienmacher Mike Flanagan und sein Team schicken eine junge Nanny an ein altes englisches Anwesen, um sich um zwei Waisenkinder zu kümmern. Doch in Bly Manor scheint es zu spuken und die beiden Kinder stecken mittendrin.

© Netflix

Spuk in Bly Manor
(Originaltitel: The Haunting of Bly Manor | USA 2020)
Showrunner: Mike Flanagan
Darsteller: Victoria Pedretti, Amelie Bea Smith, Benjamin Evan Ainsworth, Oliver Jackson-Cohen, Amelia Eve, Henry Thomas, T’Nia Miller uvm.
Ausstrahlung: 09. Oktober 2020 (Netflix)

Für nicht Wenige war „Spuk in Hill House“ eine der besten Netflix Originalproduktionen überhaupt. Konzipiert, geschrieben und inszeniert von Mike Flanagan, der für den Streamingdienst zuvor mit der King-Adaption „Das Spiel“ schon einmal üben durfte, nahm „Hill House“ den Romanklassiker von Shirley Jackson als Grundlage und expandierte eine klassisch psychologische Gruselgeschichte zu einem epischen Familiendrama. Ähnlich und doch ein bisschen anders geht nun „Spuk in Bly Manor“ vor.

Eines gleich vorweg: wer sich schon bei „Hill House“ nach mehr Horror gesehnt hatte, wer sich einen zünftigen Spuk im Stile von „Conjuring“ gestreckt auf zehn Episoden erträumt hatte und dann erkennen musste, dass Horror und Drama mindestens gleichwertig nebeneinander agieren, wird bei „Bly Manor“ ähnlich erfolgreich sein. Wenn es überhaupt Unterschiede gibt, dann solche, dass die neue Serie noch mehr Zeit mit ihren Figuren, deren Schicksalen und Innenleben verbringt. Das geht so weit, dass wir gegen Ende eine Art Meta-Dialog über die eigene Genreausrichtung erhalten, der einen alternativen Genrebegriff anregt und gleichzeitig relativiert. Diese Ausrichtung geht allerdings bereits auf die neue alte Romanvorlage zurück, die das „Bly Manor“ Fundament bildet. Henry James‘ mehr als einhundert Jahre alter und schon vielfach verfilmter Klassiker ist kein simpler Schock- und Schauerroman, sondern ein psychologisches Drama.

„Das Durchdrehen der Schraube“ (veröffentlicht ca. 1898) bildet das Rückgrat der neunteiligen Serie. Geankert durch eine Rahmenhandlung, in der uns Carla Gugino (eine von zahlreichen Rückkehrern aus „Hill House“) als Erzählerin zurück in die 1980er und ins englische Anwesen namens Bly führt, folgen wir einer jungen amerikanischen Nanny (Victoria Pedretti), die sich um die beiden Waisenkinder Miles und Flora kümmern soll, jedoch bald überzeugt scheint, dass Geister in Bly ihr Unwesen treiben. Die Nanny, die Kinder, der distanzierte Onkel (Henry Thomas) und auch die Identität der beiden wichtigsten Geister entstammen recht direkt der literarischen Vorlage, ebenso die Erzählersituation. Doch „Spuk in Bly Manor“ belässt es dabei nicht, erweitert nicht nur Hintergründe und Persönlichkeiten des vergrößerten Personals, sondern köchelt ein Henry James Potpourri zusammen. Gleich mehreren Kurzgeschichten und Erzählungen lässt Showrunner Mike Flanagan mit seinem nun erweiterten Team aus Schreibern und Regisseuren in die Handlung einfließen; mal mehr und mal weniger offensichtlich. Über die Episodentitel lassen sich die Macher in die Karten schauen, wo sie Teile ihrer Inspiration herhaben und wo der geneigte Zuschauer graben könnte, um größere Erkenntnisse zu gewinnen.

Die einst namenlose Gouvernante ist nun zu einem amerikanischen Au-Pair namens Dani geworden; Dany Clayton, benannt nach dem Regisseur von „Schloss des Schreckens“. Dani – in all ihrer Unsicherheit und ihrer beinahe panisch-existentialistischen Hilfsbereitschaft großartig verkörpert von Victoria Pedretti – bringt einen prall gefüllten Sack eigener Schicksalsschläge und unausgesprochener Angstzustände mit nach Bly. Und wer hätte das Gedacht? Das alte Gemäuer, die Kinder und einige unerklärliche Vorgänge intensivieren Danis Unsicherheitszustand noch. Doch auf clevere und bemerkenswert geschickte Art und Weise macht uns „Bly Manor“ mit dem erweiterten Personal dieser Geschichte vertraut. Man kann Kreativteam, Castingabteilung und die Darsteller nicht genug dafür loben, wie schnell uns nicht nur Dani und die faszinierend seltsamen Kinder präsent werden, sondern wie schnell uns auch Haushälterin Hannah (T’Nia Miller), Koch Owen (Rahul Kohli) und Gärtnerin Jamie (Amelia Eve) ans Herz wachsen. Was in anderen Serien gerne mal eine ganze Staffel dauert, ist hier nach zwei, drei Episoden bereits lebendig und vertraut. Es ist die neue Quasi-Familie dieser Geschichte und ist auch nötig, denn „Bly Manor“ erzählt seine komplette Geschichte innerhalb dieser neun Episoden. Und dann sind da ja auch noch die zwei wichtigsten Geister – so sie denn wirklich Geister sind – die vom Drehbuch die notwendige Aufmerksamkeit erhalten.

Bei Henry James war das Übernatürliche und Jenseitige zumeist nur eine Theorie, eine Möglichkeit, die man in beide Richtungen auslegen könnte. So handhabten es auch die meisten bisherigen Adaption. Mike Flanagan und sein Team sind da – je nach Auslegung – mutiger oder ungestümer. Schon ein erster Blick auf das stattliche Puppenhaus der kleinen Flora entlockt dem Zuschauer ein fatalistisches „oh, verdammt“, ehe wir einen kleinen Ausflug in den Dachboden des gewaltigen Anwesens unternehmen. Wir sehen Gesichter hinter Fensterscheiben, finden schlammige Fußabdrücke, die quer durchs Anwesen führen, und beobachten schon bald eine Gestalt mit eigentümlichem Gesicht in den dunklen Fluren des Hauses. Auch Danis Trauma jagt uns den einen oder anderen Schauer ein, doch wie schon bei „Hill House“ entsteht auch bei „Bly Manor“ der effektivste Grusel beiläufig und hintergründig. Das Bly Anwesen ist ein traumhafter Handlungsort, nicht so opulent und brachial wie beispielsweise „Crimson Peak“, dafür wesentlich greifbarer und realitätsnäher. In den Korridoren, im tiefen Dunkel verwinkelter Gänge oder zwischen einem Türspalt huscht so manches Mal etwas her. Oder vielleicht doch nicht? Für jeden großen „Huch, ein Geist“ Moment gibt es drei, vier weitere geisterhafte Erscheinungen im Hintergrund, ohne Nahaufnahme, ohne musikalischen Hinweis. (Das heißt aber auch, dass eine Menge von der richtigen technischen Ausstattung und Einstellung beim Zuschauer abhängt, um diese Details wirklich auszukosten.)

Doch dieser wunderbare Puppentanz wäre nur die Hälfte wert, ginge es hier nicht um etwas Reales und Persönliches. Passend zur Halbzeit, mit Episode 05, verpasst uns „Bly Manor“ einen konzeptionell und inszenatorischen Paukenschlag, führt eine immens wichtige neue Plot-Mechanik ein. Obwohl durchzogen von zahlreichen Flashbacks, Binnenerzählungen und anderen narrativen Spielereien, fühlt sich diese Geschichte erstaunlich stringent und geradlinig an. Dani, die Kinder, die Geister und die Nebenfiguren sind einfach äußerst spannende Figuren, denen man mit großem Interesse folgt, auch wenn sich mal für längere Zeit kein einziges Nackenhaar aufstellen will. In der zweiten Serienhälfte ist „Bly Manor“ dann sehr – vielleicht hier und da zu sehr – damit beschäftigt, die doppelbödigen und immerzu metaphorischen Vorgänge zu entschlüsseln und greifbar zu machen. Es ist ein wichtiges Vorgehen und doch wirkt es hin und wieder so, als rupfe die Serie das weiße Laken zu rigoros vom eigentümlich geformten Ohrensessel, um zu offenbaren, was sich hinter der Gestalt wirklich verbirgt.

War „Hill House“ noch ein selbstbewusst inszeniertes Statement, erreicht „Bly Manor“ nur selten diese Ausdrucksstärke. Stattdessen verweilt diese Anthologie-Fortsetzung auf durchweg hohem Niveau und unterwirft sich am Ende komplett der eigenen zentralen Idee und Botschaft. Es ist faszinierend zu sehen, wie rigoros und unbeirrbar hier eine Idee zu Ende gedacht wird, mit welcher Empathie die Schreiber und Regisseure unterwegs sind, auch wenn Dialoge manchmal eine größere Wichtigkeit einnehmen als Bilder. Am Ende ist „Spuk in Bly Manor“ doch wieder ganz nah bei seinen literarischen Vorbildern und bei der Vielseitigkeit der jenseitigen Gestalten. Dem Geisterhaften wird eine sentimentale und tiefgreifende Bedeutung beigemessen, der man sich kaum entziehen kann. Da spielt es keine Rolle mehr, dass man von dieser wunderbaren Miniserie häufig gerührt und bewegt ist, als erschaudert zu sein.

Fazit:
Der meisterhafte „Spuk in Hill House“ bekommt eine erstklassige Anthologie-Fortsetzung. „Spuk in Bly Manor“ ist stark geschrieben, wunderbar gespielt und besitzt spannende Figuren, denen man nur zu gerne folgt, bis hin zum bewegenden Ende. Dass die Serie noch dazu mehrfach erstklassig gruseln lässt, versteht sich da fast von selbst.

8/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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