BG TV-Kritik: „Das Damengambit“ – „The Queen’s Gambit“
Schach als Sport-Entertainment. „Das Damengambit“, Netflix‘ neue Erfolgsserie zeigt Anya Taylor-Joy („The Witch“) als von mentalen Problemen und Suchtverhalten beeinflusstes Schach-Genie. Waisenkind Beth Harmon entpuppt sich zu Beginn der 1960er als hochbegabt im Spiel der Könige und durchbricht die von Männern beherrschte Schach-Szene der USA. – Sieben Episoden als abgeschlossene Mini-Serie bei Netflix.
https://youtu.be/QJvAF5kG5ko
Das Damengambit
(Originaltitel: The Queen’s Gambit | USA 2020)
Showrunner: Scott Frank
Darsteller: Anya Taylor-Joy, Marielle Heller, Thomas Brodie-Sangster, Harry Melling, Moses Ingram, Marcin Dorocinski u.a.
Ausstrahlung: 23. Oktober 2020 (Netflix)
Was die Treppenstufen auf dem Weg zum Kunstmuseum in Philadelphia für „Rocky“ (1976) waren, ist für „Das Damengambit“ eine ranzige New Yorker Kellerwohnung mit minimalem Tageslicht. Oder zumindest so ähnlich. Die Miniserien-Adaption von Walter Tevis‘ 1983er Roman fühlt sich an wie ein großes Sportdrama, nur eben mit Schach. Und eben als siebenteilige Mini-Serie. Es ist einerseits vertraut und gewissermaßen formelhaft, aber auch anders und ungewohnt. Schach hat nicht gerade den Ruf, sonderlich spannend zu sein, gilt vielen nicht einmal als echter Sport. Dann haben wir in Elizabeth „Beth“ Harmon eine weibliche Hauptrolle in einem Sportdrama, was noch immer eine Seltenheit darstellt. (Mal Hand aufs Herz: was fällt uns neben „Eine Klasse für sich“, „Million Dollar Baby“ und „Girlfight“ sonst noch ein?) Und schließlich die Erzählweise, denn in den nun rund zwei Jahrzehnten des „Golden Age of Television“ hat es noch nicht nennenswert viele Sportgeschichten gegeben. „Das Damengambit“ profitiert davon gleich doppelt, nutzt den größeren Zeitrahmen und die episodische Natur einer Serie, beschränkt sich als Mini-Serie aber auch auf diese eine Staffel, zieht die Erzählung nicht künstlich in die Länge, um genug Material für drei Staffeln zu haben, nur um dann nach Staffel 2 abgesetzt zu werden. Die Geschichte ist am Ende wirklich beendet, ist abgeschlossen. So gesehen kommt „The Queen’s Gambit“ (Originaltitel) auch einem Film in Überlänge nahe. Das Beste beider Welten.
Es sind die späten 1950er, als die neunjährige Elizabeth Harmon, genannt Beth, durch einen Autounfall ihre Mutter verliert. Der Vater war ohnehin nicht im Spiel und so kommt Beth in ein fades Waisenhaus irgendwo in Kentucky. Hier findet Beth in der trotzigen Jolene eine erste Freundin, entdeckt durch Hausmeister Mr. Shaibel ihr Interesse und ihre gewaltige Begabung für Schach, wird durch die Medikamente im Heim aber auch auf eine eventuelle Abhängigkeitszukunft vorbereitet. Aber ja, Schach. Noch keine zehn Jahre alt, durch den Mutterverlust traumatisiert, und dennoch stellt Beth den nicht untalentierten Mr. Shaibel bald schon vor gewaltige Schach-Herausforderungen. Von den „guten“ grünen Pillen angeregt, die sich Beth auf Empfehlung von Jolene für die Nächte aufhebt, verwandelt sich die Zimmerdecke im Schlafsaal zu einem gigantischen Schachbrett. Das junge Mädchen hat noch kaum die Grundregeln des Spiels erfasst, da verändert sich bereits ihre Wahrnehmung. Doch die Ahnung eines Absturzes durch Alkohol und Drogen ist immerzu präsent. Beth wird schon in jungen Jahren eine große Karriere haben, wird landesweit bekannt sein, doch die erzählerische Rahmung der Geschichte bereitet uns schon auf die kommenden Tiefen vor. Beth erwacht in katastrophalen körperlichen Zustand in einem Hotelzimmer, ist verkatert, übermüdet und bereits spät dran, um im Finale eines internationalen Schach-Turniers gegen den russischen Großmeister anzutreten.
Mit diesen Eindrücken beginnt die Serie. Alles läuft auf das große Duell gegen die schier übermächtigen und unbesiegbaren Russen hinaus, angeführt vom großen Champion aller Schach-Champions, Vasily Borgov. Kann sich Beth in ihrem Suchtverhalten zusammenreißen, um die Herausforderung zu meistern? Das Duell mit den Russen – es sind immerhin die 1960er Jahre – wird zu einem Duell von nationalem Interesse. Es ist nicht einfach nur Sport, steht im langen Schatten des Kalten Kriegs und im ideologischen Konflikt zwischen Christentum und Kapitalismus versus Kommunismus. So bewegt sich „Das Damengambit“ in gewisser Weise bis zu „Rocky IV“ vor, nur eben ganz anders. Dieser Vergleich ist zunächst ein eher alberner, aber amüsanter Zusatz, der im Idealfall verdeutlicht, wie anfällig wir für Genre-Konventionen und Perspektive sind. Doch am Ende unterstreicht der „Rocky“ Vergleich auch den Mehrwert dieser Serie, verdeutlicht, wie sehr sich Erzählkonventionen und Weltpolitik verändert haben. Denn zwischen Sport und politischer Instrumentalisierung findet „Das Damengambit“ einen verblüffenden Grundsatz, eine Maxime, die die eigene Leichtigkeit betont und gleichzeitig so viel mehr kommuniziert als die Hau-drauf Propaganda der 1980er.
Bis es soweit ist, hat die junge Beth Harmon schon so manche Schlacht auf den Kacheln, die die Welt bedeuten, geschlagen. Die Anfangsjahre der Schachkarriere erinnern an eine klassische Underdog-Story. Showrunner Scott Frank, der sämtliche Episoden inszenierte und in Zusammenarbeit mit Allan Scott verfasste, kostet den Unterhaltungseffekt dieser Szenen mustergültig aus. Als der örtliche Schachklub von Beths Talent erfährt, soll das kleine Mädchen gegen eben diesen Schul-Schachklub antreten. Ein gutes Dutzend älterer Teenager-Jungs wartet simultan darauf, von einer Zehnjährigen langgemacht zu werden. Der Ausgang dieses Duells ist wenig überraschend, der Effekt dafür umso größer. Auch wenn aus Jungdarstellerin Isla Johnston schließlich Anya Taylor-Joy wird, die man als 13-Jährige akzeptieren muss, bleibt diese Herangehensweise gleich. Ein junges Mädchen sitzt selbstbewusst bis arrogant dreinblickenden Herren gegenüber, die – einst siegessicher und überheblich – kaum glauben können, dass sie kurz darauf ihrer Niederlage entgegen blicken.
Erst wenn Beth ihre Heim-Heimat gegen einen spießigen Kentucky Suburb austauscht und ihre landesweite Karriere angeht, ändert sich der Effekt. In der Schach-Szene ist der Name Beth Harmon inzwischen bekannt geworden. „Ach, verdammt“, jault ein junger Schachspieler, als er erkennt, gegen wen er nun spielen darf. Oder muss. Der Unterhaltungseffekt bleibt dabei bestehen, denn nicht nur umgibt Beths Siegeszüge eine gewisse Befriedigung, auch versprüht Anya Taylor-Joy mit ihrem einzigartig-expressiven Gesicht die perfekte Attitüde. Beth ist verschlossen, schleppt die Nachwirkungen ihrer turbulent-tragischen Kindheit mit sich, hat die Höflichkeitsetikette der Heim-Erziehung verinnerlicht, lässt aber auch eine stetig größer werdende Ironie und feinen Spott durchblicken, nicht selten an der Grenze zur Arroganz. Aus der Underdog-Story wird das Porträt eines möglichen Jahrhundertgenies, im ständigen Kampf gegen innere Dämonen, körperliche Schwächen und schädliche Schmerzstiller.
Beth Harmon ist ein faszinierender Charakter, den Anya Taylor-Joy mit wunderbar feingesteuerten Nuancen lebendig werden lässt. Den Feinschliff besorgen die Nebenfiguren, die Beth beeinflussen, sie verändern, ihr Wesen spiegeln, umkehren oder erweitern. In Gestalt von Marielle Heller (übrigens die Regisseurin des Tom Hanks Dramas „Der wunderbare Mr. Rogers“) kommt Ziehmutter Alma Wheatley ins Spiel. Alma ist selbst eine halb-gebrochene Figur, eine Frau mit imminenter Tragik und gewissen Methoden, die mentale Schwere zu bekämpfen. Harry Melling spielt Harry Beltik, einen jungen Schachspieler mit verheißungsvoller Aussicht auf die große Schach-Karriere – bis Beth die Bühne betritt. Auf der anderen Seite der amerikanischen Schach-Konkurrenz Thomas Brodie-Sangster als Benny Watts, selbst ein frühreifes Protegé gewesen und aktuell der angeblich beste Schachspieler der USA.
Die Verbindung dieser Figuren, ihrer Motive und Persönlichkeiten in Kombination mit dem Spannungsbogen eines Sportdramas macht „Das Damengambit“ zu einem so unterhaltsamen wie faszinierenden Serienevent. Das Script weiß mit der reichhaltigen Erzählzeit viel anzufangen, kann gleich mehrere Figuren glaubwürdig und spannend weiterentwickeln, ihnen Dimensionen und Lebendigkeit geben, ohne die Sport-Dramatik zu vernachlässigen. Denn „The Queen’s Gambit“ ist nicht zuletzt auch wirklich eine Geschichte über Schach. Das Spiel der Könige ist nicht einfach nur Behelf, nicht bloß Mittel zum Zweck für eine Geschichte vom Aufstieg und drohenden Fall eines großen Talents. Schach nimmt eine überraschend große Rolle ein, wird lang und breit thematisiert, theorisiert, mit Fachvokabular beschrieben und so spannend wie möglich inszeniert. Das ist nicht immer realistisch, oft etwas cooler und temporeicher als die Realität, doch die Ernsthaftigkeit der Thematik bleibt. Und seien wir ehrlich: „Rocky“ ist auch nicht unbedingt realistisches Boxen. Abgerundet durch eine effektive, stilvolle, aber nicht zu verspielte Inszenierung hat „Das Damengambit“ wirklich von (fast) allem etwas. Reichhaltige Figuren, ein packendes menschliches Drama, eine spannende Sport-Dynamik, wunderbare Darsteller und ein Script, welches die Vorteile einer Serien-Narrative zu nutzen weiß, aber auch genau erkennt, wie weit bzw. lang man das Spiel spielen kann.
Eine klare Empfehlung.
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