Treasure Tuesday Spezialkritik: „Shortbus“ (NSFW)

29. Juni 2021, Christian Westhus

Diese sehr freizügige Dramödie über Liebe, Sex und Selbsterfüllung hat einen gewissen Ruf, ist aber eigentlich eine entspannte Angelegenheit. Eigentlich. „Shortbus“ (2006), unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Leonine

Shortbus
(USA 2006)
Regie: John Cameron Mitchell
Darsteller: Sook-Yin Lee, Peter Stickles, PJ DeBoy, Lindsay Beamish, Paul Dawson, u.a.
Kinostart Deutschland: 19. Oktober 2006

Was ist das für ein Film?
Von John Cameron Mitchell, Regisseur des seriösen Nicole Kidman Dramas „Rabbit Hole“, kommt diese naturgemäß kontrovers besprochene Dramödie rund um Liebe, Sex und Selbsterfüllung. Kontrovers besprochen, ja, aber eigentlich unnötig, denn „Shortbus“ ist eine recht entspannte und durch und durch positive Angelegenheit – wenn man mit dem Grundkonzept zurechtkommt. Sofia (Sook-Yin Lee) ist Sex-Therapeutin in New York, aber sie bevorzugt den Begriff Paar-Therapeutin. Das Problem? Obwohl sie in einer harmonischen und eigentlich sexuell erfüllenden Beziehung mit Ehemann Rob ist, kann sie keinen Orgasmus bekommen. Über zwei Bekannte, das schwule Paar Jamie und James, wird Sofia auf den Underground Club Shortbus aufmerksam gemacht. Der Shortbus ist Bar, Lounge, Sex- und Swingerclub, ein sozialer, romantischer und/oder sexueller Treffpunkt jenseits jeglicher Grenzen aus Geschlechtern, sexueller Orientierung oder Äußerlichkeiten. Queer as fuck, sozusagen. Im Mikrokosmos Shortbus erhalten Sofia und wir Einblick in weitere Schicksale: Jamie und James versuchen ihre Beziehung mit etwas Neuem zu retten, Dominatrix Severin fehlt es am Zwischenmenschlichen, und ein stiller Beobachter könnte auch ein Stalker sein. Außerdem wird New York gerade von regelmäßigen Störungen in der Stromversorgung geplagt.

Warum sollte mich das interessieren?
Der Sex ist echt und verhältnismäßig explizit; so viel sollte man wissen. Doch anders als andere Filme, die mit der Transgression des Realen mal mehr, mal weniger starke Berührungspunkte mit dem Mainstreamkino haben, wie z.B. „9 Songs“, ist „Shortbus“ kein aufgesetzt ernsthaftes oder gewollt radikales Drama. Hier geht es um Entkrampfung und Ent-Tabuisierung, geht es um Offenheit und ein harmonisches Miteinander. Auf ihrer ersten Tour durch den Club gerät Sofia direkt in einen Monolog zum vermeintlichen Mysterium des weiblichen Orgasmus, verirrt sich dann in ein Nebenzimmer mit diskutierenden Frauen, beobachtet später an der Bar die Interaktions- und Flirtmechanik der Gäste. Ohne es gezielt drauf anzulegen und ohne es direkt zu merken, erweitert Sofia ihren Horizont. Und der Zuschauer von 2021 wundert sich, dass es schon 2006 so etwas wie Tinder gab.

Die Einstiegssequenz des Films kommt mit einer doppelten Offenheit daher. Es sind die Bilder bzw. die Tätigkeiten einerseits, doch es ist andererseits auch eine klare Demonstration dessen, womit man hier zu rechnen hat und worauf man sich einlässt. Ein Paar poppt sich in athletisch ausgefeilten Stellungen durch die Wohnung, ein junger Mann versucht ein ernsthaftes Gespräch mit einer Domina zu führen, und ein anderer Mann versucht sich an Autofellatio, nicht wissend, dass er dabei beobachtet wird. Und schließlich landet ein Samenerguss auf einem Jackson Pollock Gemälde. Man nimmt es mit Humor und das ist generell die Handhabe dieses Films, der zwar selten schreiend komisch ist, aber eben auch nicht zu verkrampf ernsthaft unterwegs ist. Die Darbietung der amerikanischen Nationalhymne durch eine, nun ja, Blaskapelle wird man dennoch nicht so schnell vergessen. Und natürlich ist ein eierförmiger Vibrator nach dem Klassiker „Im Reich der Sinne“ benannt. Man kennt sich aus.

Stattdessen setzt Regisseur Mitchell, der das recht freie Script mit dem Cast gemeinsam entwickelte, auf Authentizität. Die überwiegend nicht-professionellen Darsteller können und sollen keine Höchstleistungen vollbringen und können vermutlich nicht jede Dialognuance treffend herausstellen, doch diese Schicksale und Persönlichkeiten passen einfach, wirken echt und nachvollziehbar. Und die Teilnahme an diesen Schicksalen, das zeitliche begrenzte Streifen dieser Persönlichkeiten, der Einblick in diese für gewöhnlich unbekannten und verdeckten Vorgänge, macht den eigentlichen Reiz des Films aus. Am Ende nimmt die sexuelle Körperlichkeit im Großen und Ganzen nämlich doch keine so auffällig große Rolle ein. So scheint auch der Film zu kommunizieren, dass Sex irgendwie alles und doch auch irgendwie nichts ist.

„Shortbus“ ist auf DVD/BD/VOD erhältlich und aktuell bei Mubi und CNMA per Abo guckbar.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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