BG Kritik: „Die Morde von Snowtown“ (Treasure Monday)

10. Juli 2020, Christian Westhus

Nach wahren Begebenheiten: Der 16-jährige Jamie (Lucas Pittaway) wird vom dominanten neuen Freund (Henshall) seiner Mutter unter die Fittiche genommen. Nach einem schlimmen Vorfall gruppiert dieser, ein Mann namens John Bunting, eine Art selbst geformte Bürgerwehr, um störende Elemente der Siedlung auszusortieren.

Die Morde von Snowtown
(Originaltitel: Snowtown | Australien 2011)
Regie: Justin Kurzel
Darsteller: Lucas Pittaway, Daniel Henshall, Louise Harris
Veröffentlichung Deutschland: 21. September 2012 (DVD)

(Diese Kritik erschien im Rahmen der Kritikenreihe Treasure Monday, erschienen ursprünglich im Juni 2015.)

Der ganz reale Horror kommt in Justin Kurzels Debütfilm auf leisen Sohlen. Das macht den Schock jedoch keineswegs schwächer. Im Gegenteil. Mit Inhaltsangaben und potentiellen Spoilern ist das so eine Sache. Manches wirkt besser, wenn man ohne Vorwarnung in etwas hineingestoßen wird, wenn man orientierungslos herumtaumelt, ehe man langsam erkennt, in was für einer Hölle man sich gerade befindet. Justin Kurzels sensationell effektiver Film, mit dem er u.a. das Interesse von Michael Fassbender erlangte, so dass beide nach dem diesjährigen „Macbeth“ bald die Videospielverfilmung „Assassin’s Creed“ angehen, kommt mit einer Beiläufigkeit daher, die erst irritiert und dann schockiert. Mit der unheilschwangeren Musik von Jed Kurzel, Bruder des Regisseurs, treten wir von der ersten Sekunde an ein in eine gleichermaßen realistische wie fremde Welt. Salisbury North heißt der elendig verarmte, von Gott und der Welt vergessene Vorort von Adelaide, in dem der junge Jamie mit seinen Brüdern und der alleinerziehenden Mutter Elizabeth lebt. Der aktuelle Liebhaber der Mutter lebt gegenüber, ist erst zuvorkommend, bis er, als Elizabeth weg ist, die Fotokamera auspackt und die Jungs entkleidet. Das ruft die Nachbarschaft auf den Plan.

Bald macht sich ein neuer Mann im Haushalt der Familie breit. John Bunting ist ein selbstbewusster, intensiver, bulliger Kerl, einer mit Autorität und einem scharfen Blick, was den nach Halt und einer klaren Linie suchenden Jungs sehr gelegen kommt. Jamie, der zweitälteste Sohn und der älteste, der noch dauerhaft zu Hause lebt, ist introvertiert, ruhig, trotz kräftiger Statur ein mental schwacher, ja naiver junger Mann mit autistischen Zügen. Er beobachtet zunächst passiv, wie Bunting und seine Kollegen eine Bürgerwehr organisieren, die das „Gesindel“ der Nachbarschaft verscheuchen. Das Haus des Mannes von gegenüber mit Eiscreme zu beschmieren ist für die Brüder und ihren neuen Zieh-Vater eine Art humorvoller Initiationsritus. Dem Triebtäter abgetrennte Köpfe, Gliedmaßen und Gedärme von Kängurus vor die Haustür zu kippen, geht da einen Schritt weiter. Bunting und seine Mannen wettern und agieren gegen alles was ihnen falsch und widernatürlich erscheint, gegen Pädophile, gegen Homosexuelle, gegen alles was „anders“ ist. Und der schwächliche Jamie hat dem so manipulativen wie charismatischen Bunting wenig entgegen zu setzen, bis er das bekannte Gesicht eines persönlichen Peinigers angekettet im Badezimmer vorfindet.

© Alive AG

Wenn man mit dem Namen John Bunting etwas anfangen kann, könnte die Reaktion auf diesen Film ganz anders aussehen. Nicht, dass Kurzel uns an der Nase herumführt. Es wird schnell klar, dass Bunting sich auf halbem Weg zum Psychopathen befindet, dass er mehr ist als der Retter der Nachbarschaft. Kurzels unnachgiebig kalte, unbequeme und schonungslose Inszenierung lässt keinen Zweifel daran, dass wir kaum mit Sonnenschein rechnen brauchen. Doch es ist ein nicht zu unterschätzender Faktor zu wissen, dass John Bunting der berühmteste und berüchtigtste Serienmörder in der Geschichte Australiens ist. Daniel Henshalls Darstellung ist beeindruckend, belebt er Bunting mit einem steten Wechselspiel aus Anziehung und Abstoßung. Auch das physische und mentale Gefälle zwischen Henshalls Bunting und Jamie, den Lucas Pittaway mit einer effektiv-langsamen Totenmiene ungläubigen Ausdrucks spielt, fasziniert.

Kurzel erzählt seine Geschichte als fatalistische Verkettung unglaublicher, aber unvermeidbar wirkender Komponenten. Immer wieder gibt es Ellipsen, also Auslassungen, die uns Tage, manchmal Wochen in der Zeit weiterspringen lassen; Auslassungen der Gewalt, die durch einen messerscharfen Schnitt nicht an Wirkung verlieren. So entwickelt auch diese dem Untergang geweihte, verwahrloste Familie durch Entwicklungssprünge eine ganz eigene Dynamik. „Die Morde von Snowtown“ ist mehr als nur eine Filmversion eines realen Verbrechens. Kurzel und sein Drehbuchautor Shaun Grant entwickeln einen Kampf um Macht, um Dominanz, um gekränkte Männlichkeit, die wieder ausgeglichen und aufgewertet werden muss. Es sind Männer, die diesen Strudel der Gewalt aus Abhängigkeit und Dominanzbestreben generieren, mit Frauen in einem extremen Umfeld, die die ruhige und kraftvoll zupackende Hand eines dominanten Mannes geradezu herbeizusehen scheinen. Die schockierenden, mitunter schwer zu ertragenden und nachhaltig unter die Haut gehenden Momente, die „Snowtown“ bereithält, sind nicht so effektiv, weil sie wahr sind, sondern weil der Film einen Weg gefunden hat, sie wirkungsvoll und thematisch reizvoll aufzuarbeiten.

Fazit:
Geschickt inszeniertes und stark gespieltes „True Crime“ Horrordrama das unter die Haut geht.

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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