BG Kritik: „I care a lot“
Grell-satirischer Thriller mit schwarzhumoriger Note: Rosamund Pike beutet als Pflegeverwalterin ältere Menschen aus, bis ihr neustes Opfer ungeahnte Probleme zu Tage fördert. Mit u.a. Peter Dinklage und jetzt neu bei Netflix.
I care a lot
(UK 2020)
Regie: J Blakeson
Darsteller: Rosamund Pike, Peter Dinklage, Eiza González, Dianne Wiest
Veröffentlichung Deutschland: 19. Februar 2021 (Netflix)
Zum Himmel stinkendes Unrecht. „I care a lot“ ist eine immense, aber genau deshalb auch spannende Herausforderung für all diejenigen, die zumindest ein Mindestmaß an Sympathie für Hauptfiguren in Filmen aufbringen wollen. Das dürfte bei Marla Grayson, perfekt verkörpert von Rosamund Pike, schwer bis unmöglich werden. Fair Play sei eine Erfindung reicher Menschen, erklärt Marla, um arme Menschen arm zu halten. Ergo hat sich Fair Play – und alles, was sich dahinter verbirgt, also auch Anstand, Menschlichkeit und Empathie – für Marla erledigt. Sie nimmt sich was sie kann und will. Ihre Abzocke nutzt Lücken im bürokratischen Gefüge des amerikanischen Pflegesystems (daher die Doppeldeutigkeit des Titels): ältere und nach Möglichkeit vermögende Personen werden für dement und hilfsbedürftig erklärt, werden gerichtlich entmündigt, ihrer Autonomie und ihres Selbstbestimmungsrechts beraubt, so dass Marla als Pflegerin und Vermögensverwalterin das Leben der Opfer übernehmen kann. Während ihre eigentlich gesunden „Klienten“ in Pflegeeinrichtungen versauern und irgendwann arm und vereinsamt sterben, macht Marla die Besitztümer und Hinterlassenschaften zu Geld und lässt dieses in ihre eigene Tasche fließen.
Diese zynische und menschenverachtende Masche betrifft nicht nur Marla. Sie leitet eine eigene Firma mit Assistentinnen und weiterem Personal, die mehr oder minder wissentlich nach diesem Prinzip arbeiten. Marla hat Ärzte und Leiter von Pflegeeinrichtungen mit an Bord, die selbst ihren Teil vom Kuchen erhalten wollen und dafür jegliche Ethik vergessen lassen. Und da ein falsch aussagender Arzt und ein – wahlweise naives oder wissentlich falsch urteilendes – Gericht ohne Anwesenheit oder Einfluss der betroffenen Person über eben diese entscheiden können, läuft das System. Ist ein Klient einmal als unmündig „verurteilt“, ist jegliche Gegenwehr des Opfers nur ein „Beweis“ für die Richtigkeit des besagten Urteils. So widerwärtig ihre Arbeit auch sein mag, Marla ist ausgesprochen gut und erfolgreich darin, windet sich gleichermaßen elegant und mit kühl-präzisem Charme aus jedem Hindernis, welches ihr gelegentlich im Weg steht. Die Masche zieht … bis Marla zu gierig ist. Jennifer Peterson (Dianne Wiest) klang als mögliches neues Opfer zu gut um wahr zu sein. Beschrieben als „Cherry“, als Kirschtopping, also ohne Kinder, ohne auffälliges Leben, dafür mit prall gefüllten Konten. Natürlich hat die Sache einen Haken, denn hinter Jennifer Peterson verbirgt sich doch mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen war.
Der moralisch leidende Zuschauer wähnt schon Hoffnung am Horizont zu erkennen. Jemand stellt sich Marla in den Weg. Es ist Karma! Es ist Gerechtigkeit! Doch die Person, die Marlas elendiges Unrecht durch oh-so-göttliche Gerechtigkeit begradigen und sühnen soll, ist ein kaltblütiger Drogenschieber mit Mafiaverbindungen, der vieles ist, aber gewiss kein sanfter Humanist, dem Menschenleben am Herzen liegen. Ihm liegt Jennifer Peterson am Herzen und um diese zu retten, ist praktisch jedes Mittel recht. So ist es mit der Zuschauersympathie für die handelnden Figuren wie bei Alien und Predator: wer auch immer gewinnt, wir verlieren. Die redensartliche Wahl zwischen Pest und Cholera.
So ekelhaft Marlas Methoden auch sein mögen, „I care a lot“ erschafft daraus eine ganz eigentümliche Art von Faszination. Ton und Bildsprache sind überspitzt bis schrill, ohne jemals komplett zur Groteske zu werden. Die rhetorische Menschenverachtung der Dialoge mag für nicht wenige Zuschauer nicht viel mehr als genau das sein, doch der spitzzüngige Zynismus erfüllt einen Zweck und sorgt für eine bissige Atmosphäre. Die aalglatten und geradezu künstlich sauber ausgeleuchteten Bilder intensivieren dieses Gefühl noch, wie auch der coole, hin und wieder aber auch übereifrige Electro Synth-Score von Marc Canham. Der entscheidende Faktor dafür, dass „I care a lot“ eben doch mindestens einen Blick wert ist, ist aber Rosamund Pike. Auch Peter Dinklage, Dianne Wiest und Eiza Gonzáles gewinnen ihren Figuren einiges ab, doch Pike ist grandios. Marla Grayson scheint wie eine konsequente Weiterentwicklung von Pikes oscarnominierter Rolle als Amy Dunne in David Finchers „Gone Girl“ (2014). Eine enorm spannende Melange aus Eleganz, Charme, elitärer Klasse, eiskaltem Intellekt und grassierendem Wahnsinn.
Wenn das Geheimnis um Jennifer Peterson in der zweiten Filmhälfte eskaliert, verändern sich der Ton und das Gefühl des Films ein wenig, ohne aber den Blick fürs Wesentliche zu verlieren. Natürlich wäre die Eskalation für Marla vermeidbar gewesen, aus mehreren Gründen, an mehreren Momenten. Aber ein Grifter, eine Betrügerin wie sie, kann offenbar nicht anders als selbst Extremsituation wie ein „Ich habe nichts zu verlieren“ High Roller beim Poker anzugehen. Die Offenbarungen im Projekt „Jennifer Peterson“ wachsen ihr bald über den Kopf, doch auch Peter Dinklage beißt sich an seiner forschen Gegenspielerin die Zähne aus. Irgendwann scheint es dann aber doch so, als habe Regisseur und Autor J Blakeson seine Entscheidung getroffen, auf welcher Seite er steht. Und er hat sich bzw. seinem Publikum womöglich zu viel zugemutet, wie weit man diesem Katz-und-Maus-Spiel folgen will. Schwarzer Humor und grelle Spielfreude können nur bis zu einem gewissen Punkt führen. Andererseits sind die zentralen Akteure gerissen und ruchlos genug, um noch mindestens ein Ass im Ärmel zu haben. In diesem Fall hat sich gar ein ganzes Full House im Ärmel versteckt. Selbst wenn J Blakeson also nicht immer perfekt die entscheidenden Nuancen trifft, so gibt der grell-zynische Ton doch die moralische Marschrichtung bzw. die grobe Lesart vor. Darstellung ist nicht gleichbedeutend mit Befürwortung. Das erinnert an „Zero Dark Thirty“, an „The Wolf of Wall Street“, vielleicht gar an „Network“ und ähnelt doch irgendwie ganz besonders „Starship Troopers“. Blakeson mag (noch) kein Verhoeven sein, aber der Kurs stimmt, auch wenn ihm Rosamund Pike hier eifrig unter die Arme gegriffen hat.
Fazit:
Kniffliges Sympathie-Spiel für den Zuschauer. Betrüger, Halsabschneider und Krimineller wollen sich gegenseitig ans Leder. Das ist nicht immer angenehm, aber nicht zuletzt durch die sensationelle Rosamund Pike ein faszinierendes Projekt. Wer Jordan Belforts eiskalten Raubzug mitverfolgen konnte bzw. wollte, darf auch hier einen Blick riskieren.
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