BG Kritik: „Enola Holmes“

25. September 2020, Christian Westhus

Basierend auf einer Jugendbuchreihe macht sich „Stranger Things“ Star Millie Bobby Brown als junge Schwester von Sherlock Holmes (gespielt von „Witcher“ Henry Cavill) auf, um das Verschwinden ihrer Mutter aufzuklären. Ein frisches-freches Jugendabenteuer und vielleicht der mögliche Startschuss einer größeren Reihe? Jetzt bei Netflix und hier in der BG-Kritik.

Enola Holmes
(UK 2020)
Regie: Harry Bradbeer
Darsteller: Millie Bobby Brown, Henry Cavill, Sam Claflin, Helena Bonham Carter u.a.
Veröffentlichung: 23. September 2020 (Netflix)

England zu Zeiten von Königin Viktoria. Die Brüder Sherlock und Mycroft Holmes sind erfolgreich und berühmt, doch es gibt noch eine dritte Holmes, von der fast niemand weiß. Enola (Millie Bobby Brown) ist erst sechzehn, ihr Vater ist tot und die beiden deutlich älteren Brüder führen seit Jahren ihr eigenes Leben. So ist es an Mutter Eudoria (Helena Bonham Carter), ihre Tochter zu erziehen. Dies tut sie, als führende Person eines angesehenen und vermögenden Hauses, nicht mit Privatlehrern oder einem Elite-Internat, sondern ganz auf ihre eigene Art. Enola wird in sämtlichen Wissenschaften, in Geschichte, Philosophie und Politik unterrichtet, lernt Kampfkunst, Selbstverteidigung und geschicktes Taktieren. Nur von der Welt außerhalb des Anwesens bekommt Enola kaum etwas mit. Sie lebt ganz in der Theorie. Doch dies soll sich nun ändern, als ihre Mutter auf seltsame Weise verschwindet.

Die Gebrüder Holmes kehren seit Jahren zum ersten Mal zum Familienhaus zurück, um für Ordnung zu sorgen. Einer von ihnen erforscht das Verschwinden der Mutter und der andere bekommt die erzieherische Vollmacht über die minderjährige Enola übertragen. Da ist Mycroft Holmes (Sam Claflin), der Älteste, dem Enolas Bildung und angebliches „Wohlbefinden“ aufgetragen wurden, der sich um die richtige damenhafte Erziehung seiner kleinen Schwester kümmern soll und will. Nicht höchstpersönlich, versteht sich, sondern als derjenige, der Enola auf eine Mädchenschule schickt. Sherlock Holmes (Henry Cavill, gewohnt elegant und cool, vielleicht zu cool für Holmes) sieht die Sache womöglich etwas weniger streng als sein verbitterter Bruder, erkennt vielleicht eine charakterliche Verwandtschaft zwischen sich und Enola, doch er ist nicht in der Lage oder nicht willens wirklich einzugreifen. So muss Enola selbst die Initiative ergreifen, wie es ihr auch ganz recht ist.

© Netflix

Rückwärts gelesen heißt Enola Alone, also „allein“, wie uns die junge Frau mehrfach direkt erklärt. Überhaupt spricht Enola auffällig häufig mit dem Zuschauer und zwar nicht als bloße Off-Stimme, sondern im ständigen Bruch mit den Grenzen des Films. In den Medienwissenschaften spricht man vom Durchbrechen der Vierten Wand, wie Enola vermutlich klug und ungefragt erklären würde. Dieses Stilmittel führt zu einigen wunderbaren Reaktionen, wortlosen Kommentaren und rhetorischen Off-Spitzen, doch Regisseur Harry Bradbeer und sein Drehbuchautor haben nur ansatzweise erkannt, warum dieser Kniff bei z.B. „Fleabag“ so sensationell gut funktionierte. Hier ist es eher „Deadpool“, ist manches Mal schlicht zu viel, zu oft, zu auffällig und zu aufwändig mit der Interaktion, nicht zuletzt wenn Enola doch allen Ernstes uns fragt, ob wir eine Lösung für ein detektivisches Problem haben. „Stranger Things“ Star Millie Bobby Brown ist dennoch eine wunderbar frische Performerin in der „very british“ Hauptrolle. (Brown ist übrigens in Spanien geboren, hat aber englische Eltern und wuchs in England auf, ehe die Familie in die USA übersiedelte.) Charmant porträtiert die junge Mimin die unbändige Energie Enolas, die in einem klugen Köpfchen wütet. Es war eine lange umkämpfte Traumrolle für die Sechzehnjährige, die diesen Film doch tatsächlich mit ihrer älteren Schwester zusammen produzierte.

Nicht nur Enola ist energiegeladen, auch die übrigen Figuren sind fast alle im positiven Sinne mindestens eine Spur überzeichnet, auch die beiden berühmten Brüder. Dazwischen tummeln sich schrille Halbadlige, eine schräge Boutique-Besitzerin, eine latent notgeile Institutsleiterin und natürlich ein markiger Auftragsmörder. Was zunächst eine charmant-unterhaltsame Spurensuche zu sein scheint, driftet immer weiter in ungeahnte Richtungen ab. Und nicht nur, da die Handlung plötzlich einen gewaltigen Schlenker macht und einen jungen Lord in die Handlung holt, den es zu finden und zu retten gilt. „Enola Holmes“, basierend auf dem ersten Teil der Jugendbuchreihe von Nancy Springer, hat eine Menge auf dem Herzen bzw. hat sich eine Menge vorgenommen. Mit einer simplen Suche nach einer Vermissten oder der banalen Aufklärung eines Verbrechens ist es hier nicht getan. Es bleibt immerzu ein leichter und recht vergnüglicher Film, auch für ein jüngeres Publikum, doch die Details um Mutters Verschwinden, die Nebenhandlung um den kleinen, pardon, den jungen Lord und die Hintergründe einer politischen Reform kommen – natürlich – zu einem großen Ganzen zusammen. So ist es ein Film nicht nur über starke Frauen und ein x-fach betontes Selbstbestimmungsrecht, sondern über politisches Engagement, Wahlrecht und die Idee einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung. Das ist ein ambitioniertes Unterfangen, doch leider nur selten subtil und nicht immer treffend formuliert. Der Feminismus und politische Aktionismus in „Enola Holmes“ wirkt wie auswendiggelernt, wie abgepaust und halbfertig übertragen. Nett gedacht, aber allerhöchstens mittelmäßig umgesetzt. Ein Glück daher, dass der etwas überlange Film trotz dieser Einschränkungen problemlos unterhalten kann und die Idee weiterer Abenteuer seiner jungen Heldin (die Buchreihe besteht aus sechs Teilen) positiv in Aussicht stellt.

Fazit:
Locker, leicht und unterhaltsam, auch wenn die Details der Handlung manchmal mehr bewegen wollen als nötig oder möglich. Mit seiner entwaffnenden Hauptfigur und ihrer passend besetzten Darstellerin ist „Enola Holmes“ ein ausgesprochen netter kleiner Zeitvertreib.

6,5/10

Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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