Treasure Tuesday Spezialkritik: „28 Days Later“
Eigentlich sollten wir von fiktiven Seuchen aktuell die Nase voll haben, doch es hat einen Reiz, sich in die Filmwelt der Zombies zu geben. Zum Beispiel mit Danny Boyles „28 Days Later“ (2002), der die Untoten ins 21. Jahrhundert holte. Unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.
28 Tage später
(Originaltitel: 28 Days Later | UK 2002)
Regie: Danny Boyle
Darsteller: Cillian Murphy, Naomie Harris, Brendan Gleeson, Christopher Eccleston, Megan Burns
Kinostart Deutschland: 05. Juni 2003
Was ist das für ein Film?
Danny Boyles Zombiefilm nach Drehbuch von Alex Garland, der das Zombiegenre fürs 21. Jahrhundert erneuerte, obwohl streng genommen keine Zombies vorkommen. Jim (Cillian Murphy) wacht nach einem Koma in einem Krankenhaus auf. Der Zuschauer weiß durch das Intro des Films, was sich ereignet hat, doch Jim stapft matt und hilflos durch das leere Krankenhaus und hinaus ins menschenleere London. Als er einem ersten Übergriff wildgewordener Menschen im Blutrausch entkommen kann, wird er von Selena (Naomie Harris) aufgeklärt. Eine Seuche ging um, ausgelöst vor vier Wochen, vor 28 Tagen. Wer in Kontakt mit Blut oder Speichel der zombieartigen Horden gerät, wird selbst zu einem rasenden Monster. So ziehen Jim und Selena weiter, treffen auf andere Überlebende, erwehren sich Angriffen und empfangen bald einen Funkspruch vom Militär, der Hoffnung auf eine Lösung des apokalyptischen Problems weckt.
Warum sollte mich das interessieren?
Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, werden die Toten auf der Erde wandern. So klang es prophetisch in George A. Romeros legendärem und stilbildendem Zombieklassiker „Dawn of the Dead“ (1978). Danny Boyles Film findet ein weniger klangvolles, aber doch in Teilen ähnliches Mantra, zugespitzt mit einer Prise Zynismus des 21. Jahrhunderts: Menschen töten Menschen. Das Z-Wort wird in „28 Days Later“ ganz bewusst vermieden und doch ist sowohl Regisseur Boyle als auch Drehbuchautor Alex Garland klar, womit man sich hier befasst. Die todbringenden Horden des Films sind streng genommen nicht einmal wirklich tot, durch einen Virus zu animalisch wütenden Berserkern verändert, ihrer vermeintlichen Menschlichkeit beraubt. Doch wie weit ist der Sprung vom zivilisierten Menschen hin zum mit „Rage“ Infizierten wirklich?
„28 Days Later“ ist gleichermaßen modernisierend wie klassisch. Vielleicht mögen die oft kruden, von unsauberen, kränklichen Farben geprägten DV-Bilder heute nicht mehr wirklich modern wirken, doch sie wirken noch immer so befremdlich und rau wie vor knapp 20 Jahren. Der chaotische Schnitt, der insbesondere in den Überfall- und Actionszenen zuschlägt, als säße ein Infizierten an den Hebeln, verstärkt diesen Effekt noch. Danny Boyle ist eben ein Stilist, manchmal ungehobelt und brachial darin, der für diese Geschichte jedoch einen treffenden Weg findet. Insbesondere die Gegenüberstellung von Chaos und Gewalt auf der einen Seite und nachdenklicher Ruhe und Wehmut auf der anderen Seite führt zu spannenden Momenten. Dann natürlich Musik. Als einer der ersten (einzigen?) Filme konnte Boyle hier auf ein Lied der legendären kanadischen Post-Rocker von „Godspeed You! Black Emperor“ zurückgreifen und dennoch wurde die Scoremusik von Komponist John Murphy zu einem untrennbaren Markenzeichen.
Klassisch ist der Film in seinen Figuren und seinen Themen. Es sind die Stationen (fast) jeder Zombie-Geschichte: das Individuum, die kleine Gruppe, die Ersatzfamilie, die Suche nach Nahrung, und schließlich das Militär. Wie fast jede Zombie-Geschichte lässt auch dieser Film seine übernatürlichen Monster irgendwann in den Hintergrund treten und stellt Menschen anderen Menschen gegenüber. Der Impuls des 21. Jahrhunderts erhöht Tempo und Dringlichkeit, verstärkt Panik und Hilflosigkeit, aber nicht so sehr Gewalt. Bei aller stilistischen Spielerei, den rasanten Überfallszenen und der effektiven Auseinandersetzung mit Kernmotiven des Genres ist „28 Days Later“ auch ein Musterbeispiel dafür, dass sich ein Film selbst nicht verändert, der Kontext um den Film herum aber jederzeit. Zur Entstehungszeit blickte Großbritannien auf schwere Zeiten mit Rinderwahnsinn und einer gewaltigen Maul-und-Klauenseuche zurück. Zum Kinostart war ein SARS-Ausbruch hinzugekommen und wie auch zwei Jahre später bei Zack Snyders „Dawn“ Remake sind auch hier die vielfältigen Folgen des 11. Septembers zu erkennen. Zumindest lassen sich diese Elemente nur zu leicht herauslesen und hineindeuten. So funktioniert es auch in 2020/21 und kann sich, allem Unbehagen zum Trotz, durchaus lohnen.
„28 Days Later“ ist zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung bei Netflix und Prime Video im Abo verfügbar, ansonsten überall als DVD/BD oder VOD erhältlich.
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