BG Kritik: „Nomadland“
Die Kinos sind wieder geöffnet. Und u.a. der große Gewinner der letzten Oscars ist nun endlich zu sehen. Von der Regisseurin des kommenden MCU-Films „Eternals“ kommt dieses etwas andere Roadmovie mit Frances McDormand, die als Nomadin in ihrem Van durch die Endlosigkeit der amerikanischen Landschaft reist, von einem Teilzeitjob zur nächsten Kurzbegegnung mit anderen Menschen.
Nomadland
(USA 2020)
Regie: Chloé Zhao
Darsteller: Frances McDormand, David Strathairn, Linda May, u.a.
Kinostart Deutschland: 01. Juli 2021
Wie geht man mit dem Druck um, einen neuen Film zu sehen, der vor ein paar Wochen als bester Film bei den Oscars ausgezeichnet wurde und nun die bundesweite Wiedereröffnung der Kinos nach monatelangem Lockdown einläutet? Man ignoriert diese Begleitumstände am besten komplett. Es ist beinahe sinnvoller, auf die Filmographie von Regisseurin Chloé Zhao zu blicken, die vergangene und zukünftige. Die in China geborene und aufgewachsene Filmemacherin, die die High School in London abschloss und dann nach Los Angeles zog, liefert hier erst ihren dritten Spielfilm ab. „Songs my Brother taught me“ und „The Rider“ verbindet, wie auch „Nomadland“, eine Art zeitgenössisches „Western“ Gefühl, der dokumentarisch anmutende Blick auf die endlosen Weiten dieses so widersprüchlichen Landes und die Menschen und indigenen Kulturen darin. Als nächstes hat Zhao dann ausgerechnet einen Marvel-Film, die „Eternals“, am Start, hat diesen bereits abgedreht.
„Nomadland“, basierend auf dem Sachbuch von Jessica Bruder, ist ganz auf Fern (Frances McDormand) zugeschnitten. Fern lebte mit ihrem Ehemann einst in der Gips- und Bergbaustadt Empire, blieb auch nach dem Tod des Mannes am Ort, ehe dieser seinen wirtschaftlichen Nutzen geleistet hatte und aufgegeben, ja irgendwie komplett gelöscht wurde. Fortan zieht Fern in ihrem zum Wohnmobil umfunktionierten Van durch die Gegend, ohne feste Bleibe, ohne festen Job. Hierhin und dorthin verschlägt es sie, überall, wo sie mit ihrem Gefährt ein paar Tage stehen und vielleicht ein paar Dollar verdienen kann. Fern hätte die Möglichkeit, vielleicht bei ihrer sesshaft lebenden Schwester unterzukommen, sich in einer Stadt vielleicht eine dauerhafte Bleibe und Beschäftigung zu suchen, doch in Teilen ist das Nomadenleben und die damit verbundene Einsamkeit für Fern eine bewusste Entscheidung. So folgt der Film ohne einen echten Plot im eigentlichen Sinne einem vagen Zeitraum aus Ferns Leben, ein paar Monate an ihrer Seite und als stille Beobachter in den kleineren und größeren Begegnungen, die sich ereignen.
Es ist ein Film der Kontraste. Dieser Eindruck bewahrheitet sich spätestens, wenn wir aus Ferns improvisiertem Van in die turbulente und hochtechnisierte Welt eines Amazon-Packcenters wechseln, wo Fern für ein paar Wochen zur Weihnachtszeit arbeitet, ehe es von dort wieder hinaus in die verschneite Einöde geht. Zhao und ihr Kameramann Joshua James Richards finden bemerkenswerte Bilder für dieses Wechselspiel. Die Badlands in South Dakota, eine Convention moderner Luxus-Wohnmobile, ein großes Dinosauriermodell aus Pappe, Draht und Blech, oder Fern vor einem gewaltigen Hügel aus Zuckerrüben. „Nomadland“ leistet mehr, als nur Unterschiede aufzuzeigen und den imaginierten Hippie-Finger zu heben. Der suchende Blick und die markanten Bilder sind keineswegs so eindeutig, wie man vielleicht vermuten möchte. Es ist ein Film, der unsere Welt und das, was wir als Zivilisation bezeichnen, nicht unbedingt radikal auf den Kopf stellen will, der wohl aber den eigenen Blick schärft, ja die Wahrnehmung verändert und dazu einlädt, sich und seine Umwelt zu hinterfragen.
Denn auch Ferns Trip ist kein esoterischer Befreiungstrip, sondern ein Lebensstil mit Höhen und Tiefen, mit Annehmlichkeiten und Entsagungen. Das unterscheidet „Nomadland“ von simpleren Filmen wie „Wild – Der große Trip“ oder stärker mahnenden wie „Into the Wild“. Zhaos adaptiver Realismus, wie ihre Art der vermeintlich unverfälscht aus dem realen Leben gegriffenen Narrativen genannt wird, ist ein gemächlicher, ein schleichender Prozess, der dennoch Gewaltiges bewerkstelligt. Wir nehmen Teil an Schicksalen und Lebensstilen, entdecken Welten, die uns sonst verborgen blieben. Zhao gelingt es, dass diese mäandernde Reise an Ferns Seite nicht nur fasziniert und zum Denken anregt, sondern zunehmend auch bewegt. Dabei hilft die Musik von Ludovico Einaudi, der mit gleich mehreren intensiven Stücken vertreten ist, aber eben auch eine Darstellerin wie Frances McDormand. Sie und David Strathairn sind die einzigen professionellen Darsteller im Film. (Fast) Alle Übrigen Figuren sind nicht mal wirklich Amateure, sondern mehr oder minder reale Personen, spielen sich leicht abgewandelt selbst. Der Film scheint jedoch nicht vorstellbar mit einer anderen Darstellerin als McDormand. Die inzwischen vierfache Oscarpreisträgerin, die das Image einer unangepassten, alternativen Einsiedlerin hat, wirkt absolut authentisch und glaubwürdig in dieser Rolle. Doch ihr gelingt es auch, mit ihrem puren Talent, mit ihrer Empathie und mit perfekt platzierten Mikro-Reaktionen zu bewegen. Das, so scheint es, ist Chloé Zhaos Kino. Semi-dokumentarisches „Americana“ mit dem technischen und emotionalen Feintuning aus „Hollywood“.
Fazit:
Von der plotarmen Gemächlichkeit der ersten Eindrücke nicht abschrecken lassen. „Nomadland“ ist ein bemerkenswert vielschichtiges und bewegendes Drama von einer hochinteressanten jungen Regisseurin und mit einer grandiosen Frances McDormand in der Hauptrolle.
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