Treasure Tuesday Spezialkritik: „Leave No Trace“

8. Dezember 2020, Christian Westhus

Ein Aussteigerfilm und Coming-of-Age-Drama mit Ben Foster, von der Regisseurin von „Winter’s Bone“. Debra Graniks „Leave No Trace“, unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Sony Pictures

Leave No Trace
(USA 2018)
Regie: Debra Granik
Darsteller: Ben Foster, Thomasin McKenzie
Kinostart Deutschland: 13. September 2018

Was ist das für ein Film?
Aussteigerdrama und Coming-of-Age-Film. Will (Ben Foster), ein verwitweter Kriegsveteran, lebt mit seiner jungen Tochter Tom (Thomasin McKenzie) frei und inoffiziell in den endlosen Wäldern nahe Portland. Die Natur bietet Vater und Tochter fast alles was sie brauchen, wenn sie in ihrem kleinen Camp mit Zelt, Gemüsegarten, Feuerstelle und Regenwasserauffanganlage ihren Alltag verbringen. Den Rest besorgt der seltene Besuch in der Zivilisation, den Will bezahlt, indem er seine Schmerzmittel auf dem Schwarzmarkt verkauft. Denn Will schleppt eine Finsternis mit sich herum, die ihn nachts regelmäßig aus Angstträumen erwachen lässt. Irgendwann werden Will und Tom von den Behörden entdeckt und aus ihrem „Zuhause“ gerissen, denn das Wohnen auf öffentlichem Gelände ist nicht erlaubt. Der kleinen Familie wird eine richtige Unterkunft bereitgestellt, Will wird an eine simple Arbeit übermittelt und Tom, die von ihrem Vater bis hierher unterrichtet wurde, soll eine ordnungsgemäße Jugend mit Schule und Altersgenossen verbringen. Schnell eckt Will in der Zivilisation an, leidet unter seinen Angststörungen, doch Tom erblickt erstmalig eine Alternative zur extremen Abgeschiedenheit, die ihr bisheriges Leben bestimmte. Es ist eine Geschichte, die so manchen Zuschauer vielleicht zunächst an „Captain Fantastic“ mit Viggo Mortensen erinnert, doch mit „Winter‘s Bone“ Regisseurin Debra Granik am Steuer ist schnell klar, dass sich „Leave no Trace“ anders anfühlen wird.

Warum sollte mich das interessieren?
Aussteigerfilme sind ein faszinierendes Untergenre und ein spannendes Phänomen. Die räumliche und persönliche Enge der Zivilisation hinter sich lassen, sämtliche Seile zu kappen, um ganz auf sich oder auf die kleinste Gruppe Vertrauter fokussiert ein reines, vollkommenes Leben zu leben. Nicht wenige Aussteigerfilme führen zu einer Art Kompromiss, gestalten den Ausstieg als Reise und Prozess, an dessen Ende der Protagonist gewachsen und – idealerweise – gestärkt in die Zivilisation zurückkehrt, mit neuem Wissen, wie man besagte Enge der Moderne ein kleinwenig aufbrechen kann. In gewisser Weise reiht sich „Leave No Trace“ (dt. etwa ‚hinterlasse keine Spuren‘) gut zwischen „Into the Wild“ (2007), „Wild – Der großeTrip“ (2015), „Tracks“ (2013) oder eben „Captain Fantastic“ (2016) ein. In gewisser Weise aber auch nicht.

„Leave No Trace“ basiert auf dem gleichnamigen Roman von Peter Rock, der einen ähnlichen realen Fall eines Vaters, der mit seiner jungen Tochter für Jahre in einem Waldgebiet lebte, zum Vorbild nahm. Die fiktive Erweiterung in Buch und Film rückt den Ausstieg als ideologische Abgrenzung ein wenig stärker in den Hintergrund, um einen genaueren Blick auf den leidenden Veteranen Will und – wichtiger noch – auf die Vater/Tochter-Beziehung zu werfen. Vieles davon bleibt unausgesprochen, etabliert durch Blicke und kleine Gesten. Es braucht keine ausschweifenden Flashbacks oder ewige Dialoge über Wills Militärzeit, den Verlust der Frau oder den Inhalt der Angstvisionen, die ihn regelmäßig heimsuchen. Selbst ohne konkrete Details wird Will schnell zu einem glaubwürdigen Charakter, dessen inneres Dilemma jederzeit spürbar bleibt, was nicht zuletzt auch eine Leistung von Ben Foster ist, der diese extrem nach innen gekehrte Rolle zum Strahlen bringt. Ebenso können wir Tom als aufgewecktes Mädchen und kluge junge Frau erkennen, deren Weltsicht und Selbstauffassung größtenteils anerzogen ist.

Spannend wird die Verbindung dieser Figuren, wenn es zum großen Bruch kommt, wenn Vater und Tochter gegen ihren Willen zurück in die Zivilisation gebracht werden, wenn man ihnen gut gemeint und doch bevormundend unter die Arme greift. In diesen Passagen zeigt sich das große Talent und das Kerninteresse von Debra Granik, die feinjustierte Verschiebungen ihrer Figuren spannend und mitfühlbar herausstellt. Graniks „Winter’s Bone“ machte Jennifer Lawrence zum Star; Thomasin McKenzie hat das Talent, einen ähnlichen Weg zu gehen. Es ist ungeheuer spannend, wie sich Tom durch diesen Bruch in ihrem Leben mit Ideen einer Alternative bzw. eines Kompromisses angesteckt hat, wie sie in Bezug auf ihren Vater aber weiter tief verinnerlichte Prinzipien in sich trägt. Wenn Will seinen zweiten Ausstieg angeht, braucht weder er noch Tom groß etwas zur Entscheidungsfindung zu sagen. Ein späterer gesellschaftlicher Mikrokosmos, in welchem der Film einen Großteil des letzten Drittels verbringt, bricht die Figuren und ihr Innenleben noch weiter auf, bis hin zum so konsequenten wie hochemotionalen Schluss.

„Leave No Trace“ ist zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung bei Netflix im Abo verfügbar, ansonsten überall leih- oder kaufbar.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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