Treasure Tuesday Spezialkritik: „Hinter der Gartenmauer“

27. Oktober 2020, Christian Westhus

Der im doppelten Sinne ultimative Halloween-Tipp: Die Cartoon Network Serie „Hinter der Gartenmauer“ (2014) alias „Over the Garden Wall“ ist ein witziges und auch gruseliges Animationsmärchen mit echtem Herbst- und Halloween-Feeling. Unser heutiger Treasure Tuesday Tipp. Jeden Dienstag auf Erkundungstour gehen. Wir stöbern nach vergessenen Filmen, unterschätzten Filmen, alten Filmen, fremdsprachigen Filmen. Nach Filmen die sich lohnen, auch wenn gerade nicht die halbe Welt über sie spricht.

© Cartoon Network

Hinter der Gartenmauer
(Originaltitel: Over the Garden Wall | USA 2014)
Konzept: Patrick McHale
Sender: Cartoon Network Studios
Originalsprecher: Elijah Wood, Collin Dean, Melanie Lynskey, Christopher Lloyd u.a.
Deutsche Sprecher: Kostja Ullmann, Jonas Schmidt-Foß, Anita Hopt, Christian Brückner
Erstausstrahlung: 30. März 2015

Was ist das für ein Film?
Es ist eine Serie. Doch mit zehn Episoden je rund elf Minuten kommt „Over the Garden Wall“ im ‚binge‘ Modus problemlos einer Filmerfahrung nahe. Und selbst wenn nicht…?! Es ist der Halloweenabend. Der junge Wirt (das ist sein Name) und sein kleiner Bruder Greg flüchten über die Friedhofsmauer und stürzen dahinter in den Wald. Sie haben sich verlaufen, irren durch den Wald und übers Land. Auf der märchenhaften und unheimlichen Reise nach Hause begegnen die ungleichen Brüder dem sprechenden Vogelmädchen Beatrice, werden eine Zeit lang von einer Kröte begleitet, geraten in ein Dorf mit Kürbiswesen, müssen sich aber auch vor der alten Tante Whispers in Acht nehmen. Und im Wald lauert, wie der verbitterte Forstmann erklärt, das Biest, eine finstere Gestalt, die Menschen in Bäume verwandelt.

Warum sollte mich das interessieren?
„Hinter der Gartenmauer“ ist ein wunderbares und wundersames Stück US-Animation. Es ist zudem die perfekte Halloween-Kost, umgibt diese Geschichte doch nicht nur potentieller Grusel, sondern auch diese seltsame Stimmung aus Vertrautheit und Unbehagen, aus Humor und spätherbstlicher Wehmut, die gleichzeitig frostig und warm sein kann. Serienschöpfer Patrick McHale zog seine Inspiration aus verschiedenen Quellen. Unbestreitbar ist der Einfluss europäischer Märchenmotive – Gebrüder Grimm und Co, nicht Disney. Kinder, die sich verlaufen haben, verlassene Hütten im Wald, hexenähnliche alte Frauen, mysteriöse Kneipen und Dörfer, all diese Motive kombinieren McHale und seine Kollegen zu einem einzigartigen Bilderbogen. Dafür verwenden sie auch einige unbestreitbar amerikanische Motive, streichen beispielsweise das Kürbisdorf oder eine Seedampfer-Fahrt (mit Fröschen) in klaren Americana Farben an, unterlegt mit reichlich Musik des frühen 20. Jahrhunderts.

Die Abenteuer der beiden Brüder entfalten sich als kleine Vignetten, als Einzelgeschichten, die erst nach und nach einen größeren Zusammenhang erhalten. So sind diese parabelartigen, märchenhaften und folkloristischen Erzählungen eben doch Episoden und „Over the Garden Wall“ eben doch erzählerisch eine Serie. Als eine Cartoon Network Produktion richtet man sich natürlich an ein jüngeres Publikum, doch wie die besten Kinder- und Märchengeschichten deckt auch diese Geschichte ein enormes Spektrum ab. Der neurotisch unsichere Wirt und sein kindlich-impulsiver Bruder Greg sind ein unterhaltsames Gespann, in dem aber auch einige äußerst starke und komplexe Charakterdetails schlummern. Auch das großartige Ensemble der Nebenfiguren vereint krude Drolligkeit, Witz, gelegentliches Unbehagen und allegorische Deutbarkeit. Denn natürlich dient der Irrgang der Brüder durch folkloristische Phantastik nicht einfach nur zum unterhaltsamen Zeitvertreib. Dazu gehört auch Vogelmädchen Beatrice, die mehr ist als nur pfiffiger Sarkasmus.

Durch diese Deutbarkeit und durch den narrativen Gesamtzusammenhang bekommen nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch die Probleme, Hürden und Bedrohungen eine höhere Intensität. Das wunderschön ausdrucksstarke Art Design lässt die Kürbiswesen, Hexe Adelaide, die groteske Tante Whispers und natürlich das mysteriöse Biest schon grundsätzlich unbehaglich und spannend wirken, doch im Kontext der Geschichte und der Psychologie der Brüder entsteht daraus ein Gesamtwerk, welches es in der amerikanischen TV-Animation dieses Jahrtausends kaum ein zweites Mal gibt. Ein Hauch „Adventure Time“ schwingt mit und doch ist „Hinter der Gartenmauer“ so einzig- wie eigenartig. Eine Serie, für die man sich einen schönen Tee macht, vielleicht eine heiße Kürbissuppe, dann unter die Decke gekrochen und für knapp zwei Stunden in eine wundersame fremde Welt verzaubert.

„Hinter der Gartenmauer“ ist aktuell digital bei Amazon, YouTube, GooglePlay und Apple leih- oder kaufbar.

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Autor: Christian Westhus

Ein echter Ostwestfale. Gebürtig aus einer kleinen Doppelstadt, die niemand kennt, studierte Literatur in einer Stadt, die es angeblich nicht gibt (Bielefeld). Arbeitet seit 2006 für BereitsGesehen, schreibt Kritiken und Kolumnen, gehört zum Podcast Team und ist einmal im Monat beim KultKino in Lippstadt zu sehen.

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